Reizthema Anreiten – Überlegungen zu den Tierschutz-Leitlinien
von Babette Teschen und Agnes Trosse +++ TEASER & LESEPROBE aus Feine Hilfen 48 +++
Wichtig für Jungpferde: Gemeinsam mit Freunden die Welt entdecken. (Foto: Andrea Mumenthaler)
Im Mai 2021 erschien auf einem Portal im Internet eine Meldung, in der berichtet wurde, dass für die Überarbeitung der deutschen Leitlinien Tierschutz im Pferdesport das Mindestalter für den Ausbildungsbeginn von Pferden von bisher drei Jahren auf zukünftig 30 Monate herabgesetzt wird. Seit zwei Jahren arbeite das deutsche Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft zusammen mit Experten aus Pferdesport und -zucht sowie Vertretern aus Medizin und Tierschutz an der Neuauflage der Leitlinien Tierschutz im Pferdesport. Doch was ist dran an dieser Meldung? Stimmt es, dass sich die Lage für die Pferde verschlechtert? FEINE HILFEN machte sich mit Ausbilderin Babette Teschen Gedanken zur Relevanz einer ausreichend langen ungestörten Aufwuchsphase und bat Mitglieder des Leitlinien-Gremiums um eine Stellungnahme.
Um es direkt vorwegzunehmen: Das Einreiten eines zweieinhalbjährigen Pferdes ist in den Augen beider Autorinnen dieses Artikels in keinster Weise mit dem Gedanken des Tierschutzes zu vereinbaren, denn mit einem solchen Vorgehen wird in unseren Augen der frühzeitige Verschleiß des Pferdes in Kauf genommen. Darauf möchten wir gerne gleich näher eingehen. Allerdings möchten wir dieses Thema sachlich behandeln und uns an Fakten orientieren. Auch in Bezug auf die Aussage, dass die neuen Leitlinien eine Verschlechterung für die Situation der Pferde bringen würde. Nach dem Lesen des Artikels waren wir beide entsetzt: Wie kann es sein, dass im Jahr 2021 die Uhren zurückgedreht werden? Dass Pferde mit drei Jahren angeritten werden, fanden wir schon zu früh. Und jetzt 30 Monate? Nach Rücksprache mit Teilnehmern des Leitlinien-Gremiums mussten wir aber feststellen: Das mit der Verschlechterung stimmt nicht. Tatsächlich sorgt die neue Empfehlung für eine deutliche Verlängerung der Zeit, in der Pferde Kind sein dürfen – denn bisher galt zwar die Empfehlung, Pferde mit drei Jahren anzureiten, Pferde werden aber hierzulande grundsätzlich am 1. Januar als ein Jahr älter betrachtet. Da ist es auch egal, ob sie am 1. 1. geboren sind oder am 31.12. Für Pferde, die am 31.12. geboren sind, war diese Regelung daher bisher sehr ungünstig. Sie galten als dreijährig, obwohl sie de facto erst zwei Jahre alt waren. Genau dieser Praxis schiebt die neue Leitlinie nun einen Riegel vor. Nun ist explizit festgelegt, dass sie mit 30 Monaten – also zweieinhalb Jahren – ins Training genommen werden dürfen. Weitere sechs Monate soll ein Pferd dann schon im Training stehen, wenn es auf Schauen oder anderen Veranstaltungen vorgestellt werden darf. Dann wären die Pferde tatsächlich dreijährig. Wir wissen zwar nun, dass sich im Vergleich zu vorher etwas verbessert hat. So richtig freuen können wir uns aber trotzdem nicht.
Warum Pferde Kind sein dürfen sollten
Das liegt daran, dass wir wissen, dass Pferde sich bis zum siebten Lebensjahr im Wachstum befinden. Den Zusammenhang zwischen Wachstum und Belastung kennen wir auch aus dem Humanbereich: Menschen, die in der Kindheit körperlich arbeiten oder Leistungssport betreiben, haben große Chancen, als Erwachsene körperliche Beschwerden zu zeigen. Warum sollte das beim Pferd anders sein? Die Belastung eines Pferdes mit Gewicht auf das noch nicht ausgewachsene Skelett kann auch bei ihm zu einer Vielzahl von Erkrankungen führen. Viele Epiphysenfugen sind im Alter von zweieinhalb Jahren noch nicht geschlossen. Zu diesem Zeitpunkt das Pferd mit Gewicht zu belasten kann schwere Gesundheitsschäden zur Folge haben: Das geht von Rückenerkrankungen wie Kissing Spines über Erkrankungen des Fesselträgerapparates, der großen Gelenke an den Extremitäten bis hin zu Deformationen an der Halswirbelsäule. Sehnen, Bänder und Gelenke brauchen mehrere Monate bis Jahre, um sich auf die Belastung durch einen Reiter einzustellen. Pferde haben zudem keine Schlüsselbeine. Um einen Reiter gesund tragen zu können, braucht das Pferd eine gut trainierte Rumpftragemuskulatur. Diese sollte zunächst am Boden aufgebaut werden. Ein Gewicht mit abgesenktem Brustkorb zu tragen führt zur Überlastung der Vorhand! Nun kann man das Pferd natürlich an der Longe muskulär auf seine Aufgabe vorbereiten. Beim Longentraining bewegt sich das Pferd allerdings vorrangig auf einer Kreislinie, und auf dieser wirken Zentrifugal-, Flieh- und Scherkräfte auf das Pferd ein. Auch diese Kräfte wirken also auf einen noch nicht ausgereiften Körper. Hinzu kommt, dass das junge Pferd noch nicht gelernt hat, sich in gesunderhaltender Manier auf der Kreislinie zu bewegen (Balance, Biegung, Lastaufnahme der HH) und erst einmal auf der Kreisbahn in Schieflage gerät. Dadurch werden die Beine unterschiedlich stark belastet, wodurch die Gelenke fehlbelastet werden (auf der einen Seite wird das Gelenk gestaucht, auf der anderen Seite auseinandergezogen). Bei jungen Pferden sind die Gelenke noch sehr weich, gerade da kann es dann schnell zu Schäden kommen. Die Bewegung auf einer Kreislinie stellt ein Pferd also vor eine große Herausforderung, die es allein kaum gut lösen kann. Es ist daher ein wichtiger Baustein der Pferdeausbildung, dem Pferd behutsam zu vermitteln, wie es sich auf der Kreislinie bewegen kann, ohne sich selbst zu schaden. Und ein solch behutsames Vorgehen braucht Zeit und sollte nicht zu früh begonnen werden! Für eine ordentliche körperliche Vorbereitung an der Longe auf die spätere Arbeit als Reitpferd braucht das Pferd außerdem eine gewisse psychische Reife sowie die Fähigkeit, entspannt und konzentriert mit den Menschen zusammenzuarbeiten. Damit sind die meisten zweieinhalbjährigen Pferde auf jeden Fall noch deutlich überfordert.
Kinderarbeit?
Soll ein Pferd mit zweieinhalb Jahren angeritten werden, also mit dem Gewicht eines Reiters belastet werden, müsste man theoretisch, wollte man pferdegerecht mit der vorbereitenden Arbeit am Boden einsteigen, schon mit dem eineinhalbjährigen Pferd beginnen, an der Longe zu arbeiten. Das aber wäre absolut unverantwortlich! Betrachten wir die geistige Reife von Pferden in den verschiedenen Altersstufen, so geht man in der Zwischenzeit davon aus, dass ein dreijähriges Pferd mit einem neunjährigen Kind vergleichbar wäre. Demnach ist ein zweieinhalbjähriges Pferd vergleichbar mit einem Kind von etwa. 6–7 Jahren.
Vergleich mit den alten Meistern
Wenn wir, wie wir das auch sonst in dieser Ausgabe gemacht haben, bei früheren Reitergenerationen nachlesen, wie dort die Empfehlungen für die Arbeit mit Pferden aussahen, muss man sich schon die Frage stellen: Wie konnten wir von einem empfohlenen Mindestalter von sieben bis acht Jahren im bei Weitem im Vergleich zur heutigen Zeit medizinisch und wissenschaftlich nicht so aufgeklärten Barock (vgl. de la Guérinière, das Zitat finden Sie auf S. 74) zu einem empfohlenen Mindestalter von 30 Monaten kommen? Was genau ist da in den vergangenen 250 Jahren bzw. insbesondere in den letzten 50 Jahren schief gelaufen? Wenn wir beim Menschen die Folgen von schwerer körperlicher Arbeit oder Leistungssport auf den Kinderkörper kennen, wie kann es dann sein, dass wir neue Studien bemühen, um zu schauen, ob es beim Pferd nicht anders sein könnte? Wieso sollte dies der Fall sein? Ist das Pferd nicht ebensolch ein Wesen aus Fleisch und Blut wie wir? Das denselben physikalischen Gesetzen unterliegt? Wissen wir nicht eigentlich ganz klar, dass Pferde sehr empfindsame Wesen sind mit ebenso empfindsamen Seelen? Warum sollten sie Anforderungen an ihren Körper und ihren Geist früher verstehen als Kinder und psychisch damit besser umgehen können? Helfen uns Studienergebnisse weiter? (…)
Sie möchten den kompletten Artikel lesen? (Inklusive Auszug aus den genannten Leitlinien und Statements von Experten?)
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Babette Teschen
…arbeitet seit 1999 als Pferdetrainerin und hat sich ganz auf gesundheitsfördernde Bodenarbeit und das Longieren spezialisiert. Sie weiß genau, worauf bei der Beurteilung der Bewegungsmanier eines Pferdes zu achten ist und wie sich diese effektiv an der Longe verbessern lässt. In den Selbstlernkursen „Der neue Longenkurs“, „Sehen lernen“ u.a. teilt sie ihr Wissen aus fast zwanzig Jahren Praxis. Neben ihren Praxiskursen vor Ort bietet sie auch Online-Seminare und Online-Unterricht an. Weitere Infos
Agnes Trosse
… lebt im Westen von Köln und reitet seit ihrem fünften Lebensjahr. Sie ist vom Bundesverband für klassisch-barocke Reiterei (BfkbR) und von der FN lizenzierte Trainerin C klassisch-barocke Reiterei und bildet sich aktuell zum Rider Abilty Coach nach Elaine Butler fort. Außerdem arbeitet Agnes Trosse als Journalistin, Lektorin und Fachbuchautorin. Seit 2018 ist sie Chefredakteurin der Feinen Hilfen. Agnes Trosse gibt mobilen Unterricht in klassischer Reitkunst und bietet deutschlandweit Seminare an. Weitere Infos
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