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Die Geraderichtung – die Basis für gutes Reiten

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Ist Ihr Pferd gerade? Wirklich? (Foto: Christiane Slawik)

 

Leseprobe aus der aktuellen Ausgabe – den gesamten Text finden Sie in Feine Hilfen 11, Schwerpunktthema „Gerade gerichtet“

von Kathrin Brunner-Schwer

Wir können tausend Reitstunden nehmen, tausend Bücher lesen, auf Facebook Rat suchen und jede Menge gymnastizierende Übungen reiten – ohne ein gerades Pferd werden wir keinen Schritt weiterkommen. Schwung, Kadenz und Losgelassenheit finden wir nur bei einem geraden Pferd. Anders als die FN in ihrer Skala der Ausbildung stellte Nuno Oliveira die Geraderichtung an die erste Stelle der Reihenfolge der wichtigsten Prinzipien des Reitens. Warum? Ein Plädoyer für das gerade Pferd.

Es ist wie bei vielen anderen Dingen des Lebens auch: Wir haben ein wie auch immer geartetes Problem, wir zermartern uns den Kopf und suchen Lösungsansätze. Dabei verlieren wir das Naheliegende aus dem Blick – jene elementare Regel, die die Lösung eigentlich auf dem Silbertablett serviert. Genau das kann auch beim Reiten passieren. Da wird getüftelt, gegrübelt, gerätselt, denn „mein Pferd hat ein Problem“. Doch das Offensichtliche sieht fast niemand: Mein Pferd ist schief! Ein schiefes Pferd ist ein nicht ausbalanciertes Pferd. Es wird hart im Maul und widersetzt sich. Es zeigt keinen Takt, keine Losgelassenheit, hat keine Anlehnung und keinen Schwung (Punkte eins bis vier in der Ausbildungsskala der FN). Dabei könnte alles so einfach sein – wenn Sie (und damit Ihr Pferd) in der Spur bleiben.

 

Ein Fallbeispiel

Angenommen, Pferd „X“ ist links steif beziehungsweise rechts hohl. Es legt sich auf den linken Zügel und ist auf dieser Seite schwer zu stellen und/oder zu biegen. Höchstwahrscheinlich reißt „X“ dann auch noch den Kopf hoch und wehrt sich gegen die Reiterhand. Höchstwahrscheinlich hat es auch noch Probleme, links korrekt anzugaloppieren. Außerdem fühlt sich der Reiter vermehrt auf die rechte Seite des Pferdes gesetzt. Und je mehr er versucht, dem (meistens durch Kraft im linken Zügel) etwas entgegenzusetzen, umso schlimmer wird es. Warum? Zusammengefasst kann man es folgendermaßen erklären: weil die Hinterbeine nicht gleichmäßig treten und gleichmäßig Tragkraft entwickeln. Das linke Hinterbein tritt nicht weit genug nach vorn unter den Schwerpunkt, es trägt nicht. Infolgedessen ist das Becken schief, die rechte Pferdehüfte befindet sich jetzt vor der linken. Das linke Hinterbein kann die linke Schulter nicht mehr genug unterstützen, deshalb legt das Pferd zu viel Gewicht auf das linke Vorderbein – es lehnt auf den linken Zügel. Also driftet die Hinterhand nach rechts. Das kann sogar so weit führen, dass sich die Rückenmuskulatur auf der linken Seite des Pferdes stärker entwickelt als auf der rechten und den Reiter auf die rechte Seite „setzt“. Der wiederum versucht die Fehlstellung zu kompensieren, indem er sich mehr nach links setzt und dabei unweigerlich die Hüfte verdreht. Das führt zum stärkeren Zug am linken Zügel … der das linke Hinterbein des Pferdes noch mehr blockiert. Es tritt hinten links noch kürzer und verschlimmert das Ungleichgewicht. Es stützt sich schwerer und schwerer auf den linken Zügel.

Geraderichtung statt Hilfszügel!

Ausnahmslos und jedes Mal, wenn ich irgendwo einen Reitstall besuche, sehe ich schief gerittene Pferde. Sie sind sehr oft mit diesen „praktischen“ Hilfsmitteln aus dem Pferdesportbedarf ausstaffiert, die Abhilfe bei multiplen Reitproblemen verheißen: Schlaufzügel, Stoßzügel, Halsverlängerer, Chambon, Martingal – die Liste ließe sich fortsetzen. Und diese Pferde, die ich sehe, sind schief, gerade weil sie mit diesen Instrumenten verschnallt sind. Da will man „den Kopf runter“ haben, die „Hinterhand aktivieren“ und weiß Gott noch was. Aber niemand achtet darauf, ob das Pferd überhaupt gerade läuft! Fakt ist: Kein Hilfszügel der Welt kann irgendetwas „helfen“, wenn es an der Basis hapert. Hilfszügel sind immer mit Zwang verbunden, und schon Nuno Oliveira sagte: „Unter Zwang geht kein Pferd auf einer geraden Linie.“

Reite dein Pferd gerade, der Rest ist einfach

Schon ein halber Zentimeter Schiefe in der Längsachse des Pferdes bewirkt den Verlust von Schwung, Leichtigkeit und Durchlässigkeit. Meine Lehrerin und Freundin Sue Oliveira, Nuno Oliveiras Schwiegertochter, wurde nie müde, immer und immer wieder darüber zu referieren. „Reite dein Pferd gerade, dann ist der Rest einfach“, sagte sie Hunderte Male. Und bezog sich damit auf ihren Schwiegervater Nuno: „Ohne ein gerades Pferd ist Leichtigkeit unmöglich. Deshalb ist die Geraderichtung allem anderen übergeordnet.“ Das Erste, was sie jedes Mal tat, wenn eine neue Schülerin oder ein neuer Schüler zum Unterricht kam: Sie stand von ihrem Sitz auf der Tribüne auf und ging in die Reitbahn, um auf dem Hufschlag stehend das jeweilige Pferd von hinten auf seine Geraderichtung zu überprüfen. „Perfektion erreicht man nicht, wenn man nichts mehr hinzufügen kann, sondern erst dann, wenn sich nichts mehr entfernen lässt“, zitierte Sue in diesem Zusammenhang dann Antoine de Saint-Exupéry.

Die eigenen Schwachstellen erkennen

Selbstverständlich kann nur ein gerader und entspannter Sitz beim Geraderichten helfen. Und natürlich haben sowohl Pferd als auch Reiter von Natur aus eine starke und eine schwache Seite. Auf der starken fühlen sich beide wohler als auf der schwachen. Es liegt in der Verantwortung des Reiters, die schwache Seite seines Pferdes zu erkennen und dessen Gleichgewicht zu trainieren – wie es auch in seiner Verantwortung liegt, seine eigenen Schwachstellen zu erkennen und auszumerzen. Schon minimal ungleiche Bein- oder Zügelhilfen beispielsweise haben ein schiefes Pferd zur Folge.

Ist mein Pferd gerade?

Wie also können wir erkennen, wann unser Pferd schief ist? Ein wirklich gerades Pferd

• ist nicht nur zwischen Vor- und Hinterhand, sondern auch bis zu den Ohren gerade;
• legt sich weder auf einen noch auf beide Zügel;
• bleibt in seiner Kadenz;
• entwickelt mühelos mehr Schwung, wenn es danach gefragt wird;
• kann von der Mittellinie sofort nach rechts oder links auf eine Volte abwenden, ohne dass in der Biegung die Hinterhand die Spur der Vorhand verlässt. Wichtig: Dabei muss der Reiter fühlen, dass es auf der einen Volte nicht mehr Widerstand gibt als auf der anderen. Gleiches gilt für die Schlangenlinien durch die ganze Bahn.

Luis Valença, Portugals großer Reitmeister aus Vila Franca de Xira, gibt darüber hinaus noch den folgenden Tipp: „Man fixiert seinen Blick auf den Mittelpunkt zwischen den Ohren des Pferdekopfes. Dann verlängert man den Blick in einer geraden Achse bis zum Ende der Reitbahn. Sie wissen sofort, ob Ihr Pferd gerade ist. Das hilft auch dabei, es wieder geradezurichten.“ Ein weiterer Tipp: Wenden Sie ab auf die Mittellinie. Grundsätzlich wird das Reiten auf der Mittellinie viel zu sehr vernachlässigt. Dabei ist die Mittellinie geradezu prädestiniert dazu, die Geraderichtung zu überprüfen und zu trainieren. Außerdem macht diese Bahnfigur Ihr Pferd viel aufmerksamer. Gleiches gilt auch für das Reiten auf dem zweiten beziehungsweise dritten Hufschlag – ohne Anlehnung an die Bande. Wenden Sie also ab auf die Mittellinie und reiten Sie in Richtung des Spiegels, der meistens über einer kurzen Seite hängt; falls der Spiegel an einer langen Seite hängt, wenden Sie an der langen Seite ab. Halten Sie gleichmäßigen, leichten Kontakt in beiden Zügeln und reiten Sie gerade auf den Spiegel zu, schauen Sie nicht auf Ihr Pferd, sondern auf dessen Spiegelbild. Atmen Sie aus, sitzen Sie gerade. Wenn Sie sich besonders schonungslos überprüfen wollen, nehmen Sie die ersten paar Male die Füße aus den Steigbügeln; Sie werden sich wundern, wie schwierig es ist, Ihr Pferd wirklich geradezurichten. Lassen Sie sich nicht frustrieren, wenn Ihr Pferd schief und wackelig auf dieser Linie läuft. Je mehr Sie üben, umso besser wird es, versprochen. Reiten Sie diese Übung im Schritt, Trab und Galopp, viele Male und jedes Mal, wenn Sie Ihr Pferd arbeiten.

 

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Category: Besondere Themen

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