Alte Meister: Was sagte Gustav Steinbrecht eigentlich zum Sitz des Reiters?
Es ist immer wieder interessant, in alten Werken zu stöbern- findet man dort doch auch jedes Mal Passagen, die überraschend modern wirken. Zum Thema „Sitzschulung und Reitersitz“ hat sich Gustav Steinbrecht schon in seinem 1885 erschienen Lebenswerk „Gymnasium des Pferdes“ Gedanken gemacht, die sich durchaus mit heutigen Erkenntnissen decken und auch schon Bilder beinhalten die heute noch genauso geeignet sind wie damals, einem Schüler den richtigen Sitz zu erklären. Den lotrechten und in der Bewegung durch die sinnvolle Anpassung des Schwerpunktes variablen Sitz sieht Steinbrecht als Grundstein für Losgelassenheit beim Pferd, die Fähigkeit des Reiters im wahrsten Sinne des Wortes loszulassen und für vollkommene Harmonie. In folgenden Passagen nimmt er dies ganz besonders in Augenschein:
„Einen Normalsitz zu Pferde, wenn man darunter eine auch nur für die Mehrheit der Fälle richtige Körperhaltung verstehen will, gibt es gar nicht, denn der Reiter sitzt nur dann richtig zu Pferde, wenn der Schwerpunkt, oder vielmehr die Schwerpunktlinie seines Körpers, mit der des Pferdes zusammenfällt. Nur dann ist er mit seinem Pferde in vollkommener Harmonie und gleichsam eins mit ihm geworden. Da aber der Schwerpunkt des Pferdes nach dessen verschiedener Haltung und Richtung sehr verschieden verlegt werden kann, so muss sich danach auch die Richtung des Reiters jedesmal ändern. Es ist das Vorrecht des taktvollen, durchgebildeten Reiters, dem Pferde sogleich anzufühlen, wo sein Schwerpunkt liegt, sich mit ihm in Harmonie zu bringen und nun den Schwerpunkt des Pferdes so zu verlegen, dass durch dessen Haltung sein schöner, leichter und ungebundener Sitz bedingt wird. Es sind dies die wenigen Reiter, von denen man sagt, dass jedes Pferd unter ihnen um hundert Prozent im Werte steige.
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Der sogenannte Normalsitz wird erst dann zum schönen und eleganten, wenn das ins Gleichgewicht gerichtete Pferd ihn seinem Reiter gleichsam selbst anweist. Ein solches Bild ist dann wahrhaft harmonisch, und der Mann wird nie im Leben vorteilhafter erscheinen, als wenn er sich so zu Pferde zeige kann. Wer einsieht, dass Schönheit und Leichtigkeit des Sitzes nicht von der Körperhaltung des Reiters allein, sondern ebensosehr von der guten Haltung und dem geregelten Gang des Pferdes abhängen, der wird es natürlich finden, wenn ich rate, den Schüler, sobald er einige Sicherheit gewonnen hat, darauf hinzuführen, dass er auch auf die Richtung seines Pferdes einwirkt, sollte dies auch ab und zu unter Einbuße an vorschriftsmäßiger Haltung geschehen.
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Die alten Meister setzen ihre Schüler auf vollkommen durchgebildete Schulpferde, und zwar zunächst in den Pilaren, ohne Bügel und Zügel. Hier bedurfte es nur der Anweisung, sich unbefangen gerade, wie man gewachsen ist, hinzusetzen, das Gesäß ordentlich breit zu machen und dann die Beine natürlich herabhängen zu lassen, um den Schüler in der geordneten, taktmäßigen Bewegung der Piaffe also in Fühlung mit dem Pferde zu bringen, dass man zu den Pessaden und Sprüngen übergehen konnte, in denen der Reiter dann lernte, durch weiches Mitgehen mit den Bewegungen des Pferdes, seinen Sitz zu erhalten. So vorbereitet, wurde der Schüler alsdann, und zwar ebenfalls auf einem Schulpferde, an die Longe genommen und lernte hier, wieder ohne Bügel und Zügel, dasselbe im Vorgehen, was er in den Pialren auf der Stelle gelernt hatte, das weiche Anschmiegen an alle Bewegungen des Pferdes, oder mit anderen Worten die Balance, worauf der gute und sichere Sitz weit mehr beruht als auf dem so hoch gepriesenen festen Schluss.
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Eine Hauptregel für diesen auf richtiger Schwerpunktsverlegung beruhenden Balancesitz ist die, dass das gerade gerichtete Rückgrat des Reiters an dem des Pferdes stets senkrecht ruhen, also mit ihm zwei rechte Winkel bilden soll.
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Selbst auf die Gefahr hin, den Leser zu ermüden, komme ich daher immer wieder darauf zurück, in der Haltung des Reiters alles Steife und Gezwungene zu vermeiden, um sich recht klar zu machen, was eigentlich für diese nötig ist und weshalb. Ein zu stark angezogener Rücken krümmt die Wirbelsäule nach vorn zu ebenso, wie ein zu sehr nachgelassener dies nach hinten tut, und hat daher auch dieselben Nachteile, nur in umgekehrter Richtung. Es fällt bei manchen Schülern sehr schwer, die richtige Mitte zwischen diesen beiden Gegensätzen zu erreichen, und doch hängt hiervon fast alles ab. Die Wirbelsäule ist gleichsam der Stamm, von dem alle Glieder ausgehen, und an dem alle Organe ihren Befestigungspunkt finden. Von der Richtung dieses Stammes muss also auch die Tätigkeit der Organe und die Kraftäußerung der Glieder abhängig sein.
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Das Zurückrichten der Schultern ist erforderlich, um nicht nur das Brustgewölbe frei zu halten und die edlen Organe der Brusthöhle nicht zu beengen, sondern auch den Oberarmen ihre ruhigen, naturgemäßen Hang und ihren sicheren Rückhalt am Kreuz zu geben. Man vermeide aber dabei die Schultern hochzuziehen, da dies sowohl die Freiheit der Arme beeinträchtigt als auch dem ganzen Oberkörper etwas Gezwungenes gibt.
Nächst der richtigen Haltung der Wirbelsäule ist die flache Lage des Oberschenkels ein Hauptgrundsatz der ganzen Lehre vom Sitz. Die richtige Lage dieses Teiles bedingt die Stetigkeit der Hüften, erweitert die Gesäßfläche und sichert dem Reiter seine Haltung durch Schlussnehmen in solchen Augenblicken, in denen die Balance dazu nicht ausreichen sollte, ohne das Pferd dadurch irgendwie zu stören.
Der Unterschenkel ist zwar für den Sitz weniger wesentlich, umso mehr jedoch als Hauptorgan für die vortreibenden Hilfen und für die richtige Bügelhaltung. Da er zu diesem Zweck beweglich und im Fußgelenk elastisch sein muss, so ist es falsch, wenn man den Schüler zwingt, ihn durch Strecken des Kniegelenks und übermäßiges Heben der Fußspitze steif und unbeweglich zu machen. Ein steifer Unterschenkel wird späterhin weder mit dem Fuß den Bügel richtig halten, noch mit Wade und Sporn die Hilfen richtig geben können. Das Heben der Fußspitze hat ja den Hauptzweck, den Hacken mehr nach unten zu richten, damit der noch ungeübte Schüler sein Pferd nicht durch unbeabsichtigtes Berühren mit dem Sporn beunruhigt. Sobald daher seine Haltung durch Balance und Oberschenkelschluss gesichert ist, mag er seine Unterschenkel ganz weich und natürlich hängen lassen.“
Immer noch ein Klassiker: Gustav Steinbrechts Werk „Gymnasium des Pferdes“
erschienen im Cadmos Verlag, ISBN 978-3-86127-357-8, 39,90€
Category: Dressur