Von Bauchgefühl und Pferdeverstand
Gekürzte Leseprobe aus der aktuellen FEINE HILFEN 21.
von Claudia Weingand
Ein Shetlandpony beim Hufpflegetermin. Es schnüffelt auf dem Boden herum, steht aber ruhig, die Ohren sind hin und wieder nach hinten in Richtung des aufgehobenen Hufs gerichtet. Das Auge wirkt ruhig, das Maul ist nur bei genauem Hinsehen minimal angespannt. Alles so weit gut, möchte man meinen – Euphorie beim Schmied erwartet ja niemand. Würde das Pony den Huf wegziehen, würde so mancher Pferdebesitzer wahrscheinlich schimpfen – so schlimm ist das Stillstehen offensichtlich nicht und Shettys bekanntermaßen eigensinnig.
Hinter dem dicken Ponyschopf fahren die Emotionen allerdings Achterbahn. Ponywallach Urmel, der seit über zwei Jahren mir gehört, trägt einen Gurt zur Pulsmessung. Ein Blick auf die Pulsuhr zeigt Werte über 100 Herzschläge pro Minute – sein Ruhepuls beträgt ca. 38 bis 40. Da dauerhafte freudige Erregung in dieser Situation ausgeschlossen werden kann, scheint er Stress zu haben. Eine mögliche Erklärung: Er hat eine Hufrehe-Vorgeschichte und erwartet möglicherweise wieder Schmerzen beim Huftermin. Wie unfair wäre es gewesen, das trotz seines Stresses brav stehende Pony für ein eventuelles Zappeln zurechtzuweisen?
Die Sache mit dem Bauchgefühl
„Wie wichtig ist es euch, was euer Pferd fühlt? Und: Woran erkennt ihr das?“, frage ich wenige Tage später in einem sozialen Netzwerk. „Dass es dem Pferd gut geht, ist das Wichtigste überhaupt“, antworten zahlreiche Reiter. Ob das so ist, „habe man doch im Gefühl“. Von Bauchgefühl und Intuition ist die Rede und von jahrelanger Erfahrung mit Pferden.
Wenn uns allen so wichtig ist, wie es unserem Pferd geht – und ich glaube das jedem, der es behauptet, von Herzen –, warum gibt es dann so viele Pferde mit Magengeschwüren, Kissing Spines oder Verhaltensauffälligkeiten? Warum reiten wir mit unpassenden Sätteln, halten unser Pferd in stressigem Umfeld oder reiten es an seinen Bedürfnissen vorbei? Wahrscheinlich, weil unser Bauchgefühl nicht immer mit der realen Gefühlslage unserer Pferde übereinstimmt. „Ich kenne Reiter, die im Training ein gutes Bauchgefühl haben, wenn sie sich mal so richtig ‚durchgesetzt‘ haben und das Pferd fortan auf ihre Wünsche reagiert“, gibt Sylvia Czarnecki zu bedenken, die Unterricht im positiven Pferdetraining gibt. „Ein gutes Bauchgefühl habe ich ja, wenn sich für mich etwas positiv anfühlt. Ob es dem Pferd auch so gut damit geht, ist eine andere Frage.“ Was wir für gut befinden, hängt Czarnecki zufolge mit unserem Wissensstand zusammen. „Wenn ich mir Videos meines Pferdetrainings von früher anschaue, erschrecke ich teilweise, wie viel Druck ich aufgebaut habe. Heute habe ich andere Kriterien.“ Wenn wir also z. B. glauben, dass ein Pferd sich in einer bestimmten Haltungsform, einem bestimmten Trainingssystem oder in einer bestimmten Körperhaltung unserem derzeitigen Wissensstand entsprechend wohlfühlen muss, kann unser Bauchgefühl uns ganz schön fehlleiten. Steht unser Pferd z.B. im Offenstall, wird nach unserem großen reiterlichen Vorbild gearbeitet, hat einen teuren Maßsattel und geht zuverlässig so „am Zügel“, wie wir es als ideal ansehen, übersehen wir vielleicht, dass es im Stall von den anderen Pferden von A nach B gejagt wird, beim Satteln in die Luft beißt und beim Reiten unzufrieden mit dem Schweif schlägt. Dann „darf nicht sein, was nicht sein kann“. Reiten wir ein Pony, unterstellen wir ihm vielleicht Sturheit, oder halten es für rassetypisch, wenn der Araber im Gelände kaum zu halten ist. Mit dem Bauchgefühl ist es also so eine Sache.
Wie Pferde fühlen
Wahrscheinlich wird jeder Reiter vermuten, dass Pferde ein ähnlich vielschichtiges Gefühlsleben wie der Mensch besitzen. Tatsächlich haben Wissenschaftler bei verschiedenen Säugetierarten nachweisbare Vorgänge im Gehirn gefunden, „wenn sie negative Emotionen wie Angst, Ärger oder Leid, aber auch positive Emotionen wie Freude empfanden. Bei allen Säugetieren laufen diese ‚Basisemotionen‘ in einem entwicklungsgeschichtlich sehr alten Teil des Gehirns, dem Stammhirn und dem im sogenannten limbischen System liegenden Mandelkern (Amygdala) ab“, schreibt Verhaltensbiologin Marlitt Wendt in ihrem Buch Was Pferde fühlen und denken (Cadmos Verlag). Und weiter: „Da es sich bei all diesen Gefühlsregungen innerhalb der Gruppe der Säugetiere um dieselben chemischen und physikalischen Prozesse handelt, ist davon auszugehen, dass sie von Mensch und Tier auch ähnlich empfunden werden.“
Sind Stammhirn und limbisches System durch starke Emotionen besonders angeregt, können andere Hirnregionen nur eingeschränkt arbeiten. Die Hirnareale blockieren sich gegenseitig. Das ist der Grund dafür, dass es Pferden (und übrigens auch uns) nicht möglich ist, bewusste Entscheidungen zu treffen, wenn uns die Gefühle „überrollen“. Hat ein Pferd also z.B. große Angst, ist es ihm unmöglich, klar zu denken oder gar zu lernen. Unterstellt man einem nervösen Pferd bösen Willen oder „Dominanz“, wenn es in seiner Hektik vielleicht nicht so „funktioniert“ wie sonst, tut man ihm also Unrecht.
Wie aber erkennen wir, wie sich unser Pferd fühlt? Pferde sind als Fluchttiere ziemlich gut darin, ihre Gefühle – besonders Schmerz – zu verstecken. Evolutionsbiologisch sinnvoll: Würden sie z. B. laut jaulen, wäre jedem potenziellen Wolf klar, dass da irgendwo fette Beute wartet, die wahrscheinlich in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt ist…
Pferde lesen kann man üben
Woran können wir also ablesen, was in unseren Pferden vorgeht? „Da gibt es z. B. die Horse grimace scale von Alwin [Anm. d. Red. Animal welfare indicators]. Das ist eine kostenlose App, mit der man sich selbst trainieren kann, Schmerzanzeichen zu erkennen“, sagt Verhaltensexpertin Dr. Willa Bohnet.
Eine gute Sache. Schließlich sollten wir alle ja in der Lage sein, zu sehen, wann unser Pferd sich nicht wohlfühlt. Im Trainingsteil der App kann man Pferdefotos analysieren lernen. Die Schmerzgesichter gehören Hufrehepatienten oder frisch kastrierten Wallachen. Man schätzt die Haltung der Ohren, den Ausdruck der Augen, Tonus der Gesichtsmuskulatur und der Region über den Augen ein und beurteilt auch Nüstern- und Maulpartie. Dabei kann man angeben, ob Schmerzanzeichen gar nicht, moderat oder offensichtlich vorhanden sind. Die Fotos und Analysen sind wissenschaftlich anerkannt und schulen das menschliche Auge.
Nervosität und Freude
Ich lade mir die App herunter, liege fast immer richtig und denke, dass sie eine gute Trainingsmöglichkeit für Reiter und Pferdebesitzer darstellt.
Doch: Was nützt es, wenn ich die Emotionen auf den Fotos treffend errate, aber bei meinem eigenen Pony nicht erkenne, wie hoch der Stresslevel ist?
Zunächst ist Schmerz natürlich nicht gleichzusetzen mit Stress. „Pferde drücken Stress individuell sehr verschieden aus“, sagt Dr. Bohnet. „Ihr Pony scheint bei Stress eher zu erstarren. Andere Pferde würden vielleicht zappeln oder umgeleitetes Aggressionsverhalten zeigen. Die beißen dann in den Anbindebalken oder in die Luft, weil sie gelernt haben, dass es keine Option ist, z.B. den Hufschmied zu beißen.“ Sie vergleicht die individuellen Unterschiede mit uns Menschen. „Vor der Abschlussprüfung sieht man das bei den Studenten. Manche kritzeln auf ihrem Block herum, andere laufen auf und ab, wieder andere sitzen völlig bewegungslos und scheinbar ruhig herum.“
Gerade was die Einschätzung „Der regt sich auf“ angeht, kann man also weit danebenliegen. Ich habe übrigens auch bei Hariel, meiner vierjährigen Lusitanostute, den Puls während des Schmiedtermins gemessen. Im Gegensatz zum ruhig stehenden Urmel war sie an diesem Tag zappelig, eher ungeduldig und hat sich viel umgeschaut – und das mit einem Ruhepuls von 35 Schlägen pro Minute …
„Dann hat Ihre Stute wahrscheinlich ziemlich selbstsicher gezappelt – oder eventuelle Anspannung einfach durch Bewegung abgebaut“, schätzt Willa Bohnet die Situation ein.
Und nicht nur mit der Einschätzung von Stress können wir uns vertun. Für uns Reiter lässt sich auch nicht zweifelsfrei feststellen, ob ein Pferd sich freut.
„Ich war kürzlich bei einem Turnier. Ein Pferd kam ins Dressurviereck und war sichtlich nervös. Diese Anspannung entlud sich schließlich in Bocken“, sagt Linda Weritz, die das Internationale Institut für Pferdekommunikationswissenschaft in Düsseldorf leitet. „Ich habe dann von mehreren Seiten gehört, dass das Pferd ja richtig Spaß gehabt hätte. Unsere Einschätzungen waren hier sehr verschieden.“
Anders als der Hund können Pferde nicht mit dem Schwanz wedeln (zumindest nicht als Ausdruck von Freude) oder eine für jeden Menschen erkennbare Art von „Lachen“ zeigen. Dennoch sind viele Pferdebesitzer überzeugt davon, dass ihr Pferd sich „auf die Arbeit freue“, schließlich komme es sofort auf sie zu, wenn sie den Stall betreten. Folglich mache man im Training alles richtig.
Linda Weritz ist skeptisch, wenn sie diese Einschätzung hört. „Das ist auch von der Haltung des Pferdes abhängig. Wenn es 23 Stunden in der Box oder einem reizarmen Offenstall steht, kommt es sehr wahrscheinlich zum Besitzer, weil der Abwechslung verspricht. Ob es sich nun auf die Möhre in der Tasche ‚freut‘ oder tatsächlich auf die Arbeit, können wir nicht wissen. Wenn es jemand schafft, dass sein Pferd vom Ende einiger riesigen saftig grünen Koppel auf ihn zugaloppiert kommt – ohne dass er mit der Haferschlüssel rasselt –, dann darf er sich wahrscheinlich wirklich etwas auf seine Arbeit einbilden.“
Emotionen und körperliche Merkmale
Emotionen beeinflussen den Körper des Pferdes (z. B. Mimik, aber auch Herzfrequenz und Muskeltonus). Das lässt sich auf das vegetative Nervensystem zurückführen. Dieses wird in Sympathikus und Parasympathikus aufgeteilt. Der Sympathikus wird angeregt, um die körperliche Leistung zu steigern: z.B. steigt der Blutdruck und die Herz- und Atemfrequenz erhöhen sich, die Muskulatur wird besser durchblutet. Das Pferd ist „angespannt“.
Der Parasympathikus wird auch „Erholungsnerv“ genannt und dient der Regeneration. Ist er angeregt, werden Herz- und Atemfrequenz verlangsamt und das Verdauungssystem besser mit Blut versorgt. Das Pferd ist „entspannt“.
Es ist also durchaus möglich, etwa mit einem Pulsmesssystem erhöhte Sympathikusaktivität nachzuweisen. Stress bedeutet z. B. immer einen Anstieg der Herzfrequenz. Aber: Ein hoher Puls bedeutet nicht immer Stress. „Steigt die Herzfrequenz, zeigt uns das eine höhere Erregung an“, sagt Verhaltensexpertin Dr. Willa Bohnet. Ob es eine freudige Erregung, körperliche Anstrengung oder Stress ist, muss im Kontext gesehen werden. Genau wie die Unterscheidung, ob der Stress durch Unsicherheit im Training, Schmerzen, Angst oder in Urmels Fall sogar durch Angst vor Schmerzen erzeugt wird. Wenn der Puls steigt, weil ich eine Möhre aus der Tasche krame, ist das wahrscheinlich freudige Erregung. Steigt er, wenn ich mit dem Sattel um die Ecke komme, könnte das mit dem Schmerzgedächtnis zusammenhängen – dann kann es z. B. sein, dass der aktuelle Sattel drückt oder dass das Pferd sich an einen vorherigen drückenden Sattel erinnert. Auch gibt es Mimik- und Verhaltensmerkmale, die auf Stress hindeuten.
„Es [Das Pferd] zeigt die typische Sorgenfalte über dem Auge, die sich als Dreieck darstellt; durch die etwas gepresste Atmung ist der Rand der Nüstern gespannt und der Blick wirkt starr und hart“, schreibt Verhaltensbiologin Marlitt Wendt. „Lecken der eigenen Lippen, auffälliges Kauen oder häufiges Gähnen werden häufig missverstanden“, können aber darauf hindeuten, dass das Pferd versucht, Stress abzubauen.
Man sollte sein Pferd also sehr genau beobachten, bevor man allein sein Bauchgefühl sprechen lässt. Und um die Sache noch etwas komplizierter zu machen: Pferde können auch schauspielern. „Pferde sind kluge Tiere, die blitzschnell Ursache und Wirkung ihres Verhaltens heraushaben“, weiß Dr. Willa Bohnet. Ein Beispiel: Ein Pferd macht die Erfahrung, dass der Reiter die Arbeit beendet, wenn es lahmt. Man führt das Pferd in den Stall und kümmert sich um das Tier. Nach ein paar Wochen beginnt man wieder mit dem Reiten und das Pferd geht klar. „Wenn Sie dann etwas fordern, was das Pferd vielleicht nicht versteht oder ungern machen möchte, kann es sein, dass es sich daran erinnert, dass Lahmen schon mal die Arbeit beendet hat. Und was tun Sie, wenn ein gerade genesenes Pferd wieder lahmt? Natürlich absteigen.“ Sicher ist das im Umkehrschluss keine Empfehlung, auf einem lahmenden Pferd sitzen zu bleiben, verdeutlicht aber Cleverness und Schauspieltalent unserer Pferde. „Ich kenne sogar Fälle, in denen Pferde Koliksymptome ‚vorgespielt‘ haben – wahrscheinlich, um Aufmerksamkeit zu bekommen“, so Bohnet. Es sei also auch durchaus möglich, dass Pferde gestresst „tun“, es aber nicht sind. Was natürlich nicht heißt, dass man Anzeichen für Unwohlsein fortan getrost ignorieren darf! Zeigt das Pferd in einer bestimmten Situation aber immer ein bestimmtes Verhalten, könnte z. B. eine Pulsmessung zeigen, ob es wirklich Angst oder Stress empfindet.
Was nicht schauspielern kann, ist das Nervensystem und letztlich die unwillkürlich gesteuerten Strukturen des Pferdekörpers. Ist ein Pferd immer wieder in bestimmten Körperregionen verspannt – und kommt die Verspannung nach der Behandlung durch einen Therapeuten immer wieder –, kann das neben unpassendem Equipment oder unphysiologischem Training eine emotionale Ursache haben. Das kennen wir von uns: Haben wir viel Stress, bekommen wir z. B. Nackenschmerzen, weil die Muskulatur sich verspannt. Auch Pferde können Nackenschmerzen haben – zeigen sie beispielsweise ein stark ausgeprägtes, verspanntes, suboccipitales Nackendreieck, deutet das oft auf starken Stress (durchaus auch Stress mit der Reiterhand) hin. „Diese Verspannungen entstehen eigentlich eher in den Faszien, also dem Bindegewebe, das unter anderem die Muskulatur umgibt, als in der Muskulatur selbst“, sagt Barbara Welter-Böller, Gründerin der Fachschule für osteopathische Pferdetherapie. Wie man heute weiß, wird die Faszienspannung vom vegetativen Nervensystem beeinflusst. Ein Pferd, das viel Stress hat, kann sich insgesamt in seiner Muskulatur „fester“ anfühlen – ist es bereits vom Dauerstress erschöpft und innerlich resigniert, kann die Muskulatur auch auffällig weich und schwammig wirken.
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Category: Besondere Themen
Großartig!
Sehr toll beschrieben und an passenden Beispielen erklärt.
Tolle Arbeit!!!
Vielen Dank dafür!
Liebe Grüße
Michelle Kubiak
Vielen Dank für das Feedback!
Liebe Grüße,
Claudia Weingand