„Viele Pferde sind übertrainiert“
Interview mit Barbara Welter-Böller
Anlässlich unseres FEINE HILFEN- und evipo-Symposiums am 14. und 15. 10. bei Hannover zum Thema „Vom Führen bis zum langen Zügel – die klassische Arbeit am Boden“ führen wir Interviews mit den Experten. Eine davon ist Barbara Welter-Böller, Leiterin der Fachschule für osteopathische Pferdetherapie.
FEINE HILFEN: Viele Reiter sind der Ansicht, dass tägliches, gutes Reiten Pferde gesund erhält und optimal trainiert. Wie sehen Sie das?
Barbara Welter-Böller: Natürlich ist es wunderbar, wenn jemand gut reitet. Wird das Pferd dabei immer gesünder und leistungsfähiger und entwickelt sich sein Exterieur positiv, kann man das auch gern so handhaben. Trotzdem erleben wir als Osteopathen oft den Fall, dass auch gut gerittene Pferde sich körperlich und psychisch eher verschlechtern als verbessern. Oft liegt das daran, dass das Gewebe in der Sattellage zu stark belastet wird. Dann beginnt der Rücken sich zu verschlechtern. Die Muskulatur in der Sattellage atrophiert, der Schulterblattwinkel wird gut sichtbar. Und dabei muss nicht mal der Sattel unpassend sein: In der extrazellulären Matrix, also zwischen den Zellen des Bindegewebes, gibt es Makromoleküle, die Proteoglykane. Diese binden Wasser. Das kann man sich vorstellen, als würde ein Schwamm Gewebswasser aufsaugen. Unter starker Kompression werden die Moleküle zerstört, der Schwamm wird „ausgedrückt“. Sie können regenerieren, was aber je nach Druckbelastung zwei bis zehn Tage dauert. Verändert sich mein Pferd also in irgendeiner Form zum Negativen, sollte ich vielleicht umdenken und Pausentage machen, an denen ich z.B. vom Boden aus arbeiten kann. Und natürlich muss auch die Haltung und Fütterung kritisch hinterfragen.
FEINE HILFEN: Warum ist Arbeit am Boden – also etwa Longieren oder Arbeit an der Hand – sinnvoll?
Barbara Welter-Böller: Zum einen um der oben angesprochenen Druckbelastung zu entgehen und dabei das Pferd trotzdem sinnvoll zu bewegen. Auch sollten junge Pferde oder Pferde nach einer Trainingspause stets am Boden auftrainiert werden, bis sie stabil genug sind, um einen Reiter tragen zu können. An der Longe kann man wunderbar den Rumpfträger, der den Pferderumpf zwischen den Schulterblättern aufhängt, und die Bauchmuskeln trainieren und eine erste Idee von Schubkraft entwickeln. Man kann Übergänge longieren und so die Koordination schulen. An der Hand kann man dem Pferd eine Idee davon geben, wie es Teile seines Körpers koordiniert bewegen kann – also beispielsweise die Hinterhand übertreten lassen oder die Schultern zur Seite bewegen und später Seitengänge erarbeiten – wenn man es denn kann.
All das ist für das Pferd ohne Reitergewicht sehr viel leichter zu lernen. Auch wenn die Sattellage sich negativ entwickelt hat – ob nun durch zu viel Reiten, einen zu schweren Reiter oder einen unpassenden Sattel – sollte man das Pferd zunächst an der Longe auftrainieren, bis sich die Rückenlinie wieder positiv entwickelt. Erst dann ist es sinnvoll, wieder einen Sattel anpassen zu lassen.
Ich finde es deshalb sehr wichtig, dass Reiter zumindest vernünftig Longieren können, denn es kann immer mal passieren, dass gezieltes Reha-Training nötig wird.
FEINE HILFEN: Sie haben Pausentage angesprochen. Ist tägliches Reiten automatisch Übertraining?
Barbara Welter-Böller: Das möchte ich nicht pauschalisieren, aber in der Praxis erlebe ich viele übertrainierte Pferde. Wer täglich so trainiert, dass das Pferd schwitzt, gönnt Muskeln, Sehnen und Bändern keine Regenerationszeit. Wenn man Pulswerte eines übertrainierten Pferdes checkt, fällt auf, dass der Ruhepuls erhöht ist und es länger dauert, bis der Puls nach Belastung sinkt. Auch wird sich die Koordination verschlechtern. Wenn ich also heute fliegende Wechsel reite und morgen macht das Pferd ständig Fehler, braucht es keinen Gertenhieb wegen „Frackigkeit“, sondern Regenerationspause! Übertrainierte Pferde nehmen auch Gewicht ab, manche werden müder, manche zunehmend nervöser. Wer diese Symptome am Pferd feststellt, sollte dringend sieben bis zehn Tage Pause einlegen, in der er das Pferd nicht fordert.
FEINE HILFEN: Vielen Dank für das Gespräch.
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