„Unsere klassische Lehre ist die pferdegerechteste auf der Welt“
Für Dressurausbilder und -richter Michael Putz ist das klassische deutsche Ausbildungssystem das pferdegerechteste. Dass feines Reiten gerade auf Turnieren Seltenheitswert hat, liegt ihm zufolge nicht an den Richtlinien, sondern an wenig ausdauernden Reitern, falschen Vorbildern und unkritischen Richterkollegen.
(LESEPROBE Feine Hilfen 13 Oktober/November 2015)
Interview mit Michael Putz
Feine Hilfen: Beim Gang über die diesjährige Equitana bin ich auf zahlreiche Stände gestoßen, die bestimmte Ausbildungssysteme verkauft haben: Sei es Natural Horsemanship nach X, Légèreté nach Y, Equikinetic nach Z oder Reitkunst nach Schema F. Fazit: Es gibt offensichtlich einen Markt für verschiedene Systeme und Subsysteme, nach denen Pferde ausgebildet werden können. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Michael Putz: Ich sag’s mal so: Ich baue gern Stangenarbeit in meinen Unterricht ein. Die Stangen müssen allerdings nicht blau und gelb sein. Cavalettitraining, Dualaktivierung, Equikinetic, Faszientraining und so weiter – das sind Aspekte der Reiterei, über die man sich informieren kann und die man der Abwechslung wegen gern ausprobieren kann. Sie sollten aber einem sinnvollen System untergeordnet sein.
Feine Hilfen: Und das wäre welches System?
Michael Putz: Ich bin überzeugt davon, dass unsere klassische deutsche Reitlehre die pferdegerechteste ist. Ich habe als Leiter der Westfälischen Reit- und Fahrschule Einblicke in andere Reitweisen bekommen: Westernreiten, Barockreiten, Reiten nach Philippe Karl. Mir ist dadurch nur noch klarer geworden, dass unser Ausbildungssystem eigentlich wunderbar ist. Ich brauche keine französische Légèreté, mir reicht deutsche Leichtigkeit.
Feine Hilfen: Warum ist die deutsche Reitlehre – ich verstehe darunter die in die Praxis umgesetzten FN-Richtlinien – aus Ihrer Sicht so pferdegerecht?
Michael Putz: Unsere Reitlehre ist weltweit bei jedem Pferd anwendbar, weil sie sich an der Biomechanik und der jeweiligen mentalen Situation des Pferdes orientiert. Die Oberlinie, das gesamte Rumpfstreckersystem, sollte dehnfähig sein, weshalb wir immer wieder die Dehnungshaltung abfragen. Aber niemals in zu langen Reprisen, ein Wechselspiel der Haltungen ist wichtig.
Für die Losgelassenheit und die Tragfähigkeit des Rückens ist die Nachgiebigkeit des Pferdes im Genick Voraussetzung. Dabei darf der Hals nicht eng gemacht werden, weil sonst seine Fähigkeit, sich auch mit dem Reiter auszubalancieren, beeinträchtigt wird. Beides ist wiederum Voraussetzung für reelle Schwungentwicklung, seriöse Versammlung mit relativer Aufrichtung.
Feine Hilfen: Ist die Wahl des Ausbildungssystems nicht vielleicht vom Pferdetyp abhängig? Gibt es zum Beispiel Pferdetypen, die keine Dehnungshaltung brauchen?
Michael Putz: Nein, das Aufdehnen ist auch für Vollblüter, Friesen und Barockpferde wichtig. Egon von Neindorff sagte so schön: „Auch Barockpferden schadet es nicht, richtig geritten zu werden.“ Sie haben es sogar noch nötiger, sich in der Oberlinie zu öffnen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass ein Pferd von hinten heranschließen kann. Und noch mal: Ich meine keine minutenlang exerzierte Dehnungshaltung. Kürzlich war ich zu Gast bei einem portugiesischen Ausbilder, der hierzulande einen Trainingsstall aufbaut. Mir gefiel die statische Positionierung der Hand dort nicht. Bei uns sagt man, die Hand folgt dem Pferdemaul: „Hoher Zügel zäumt, tiefer Zügel bäumt“, die Hand wird also stets so positioniert, dass Ellbogen – Zügelhand – Pferdemaul immer eine gerade Linie bilden. Eine solche Flexibilität habe ich in seinem Ausbildungssystem vermisst. Genauso statisch ist die Haltung der Pferde: Sie zeigen die Lektionen, aber oft ohne Nachgiebigkeit im Genick und Hergabe des Rückens.
Feine Hilfen: Wie erkennt ein lernwilliger Schüler, ob ein viel beworbener Reitmeister pferdegerecht reitet und unterrichtet?
Michael Putz: Am aussagekräftigsten sind immer die Pferde: Wie reagieren sie, wenn sie mit der jeweiligen Reitweise konfrontiert werden, sei es durch Unterricht, erst recht, wenn der Betreffende selbst reitet? Selbstverständlich darf da zu Beginn auch einmal ein Fragezeichen im Gesicht des Pferdes erscheinen. Sehr schnell aber sollte erkennbar sein, dass es spürt, wie alles besser funktioniert und leichter geht. Die Fragezeichen müssen einem zunehmend entspannteren, ja Vertrauen widerspiegelnden Gesichtsausdruck weichen.
Beobachten Sie ihn beim Reiten seiner eigenen Pferde, wenn er einfache Übergänge (Schritt – Trab – Schritt, Trab – Galopp – Trab) reitet. Diese zeigen deutlich, ob das Pferd sich losgelassen mit hergegebenem Rücken bewegt. Umgekehrt sind sie geradezu entlarvend, wenn dies nicht der Fall ist. Besonders deutlich machen das auch bei entsprechend weit ausgebildeten Pferden Trab-Piaffe-Trab-Übergänge. Nur bei einer reell ausgebildeten Piaffe gelingt ein taktmäßiger, fließender Übergang vom versammelten Trab, eventuell über halbe Tritte, in die Piaffe und zurück in den versammelten Trab. Gerade auch bei Reiter-Pferd-Paaren, die sich in „höheren Regionen“ zu bewegen glauben, sind häufig Schwierigkeiten bei den Übergängen zu beobachten.
Mit solchen Übergängen lässt sich auch falsch verstandene Anlehnung entlarven. Gerade auch in der Barockszene herrscht häufig die Meinung, Anlehnung sei korrekt, wenn der Zügel leicht durchhängt. Diese ganz feine Verbindung – man spricht in unserer Reitlehre davon, dass die Stärke im Idealfall dem Gewicht des Zügels entspricht – ist aber ein hehres Ziel. Beim Jungpferd darf man das sowieso nicht erwarten, aber auch in der weiteren Ausbildung ist es nur wenigen, besonders begabten Reitern mit dem einen oder anderen Pferd möglich, dahin zu gelangen. Wichtig ist zunächst einmal, dass das Pferd vertrauensvoll an die Hand herantritt, dass es „zieht“. Nur dann ist es möglich, ein Pferd seriös zu versammeln und es auch dabei stets vor sich zu haben. Natürlich ist es in dieser Ausbildungsphase immer wieder einmal eine Gratwanderung, dem Pferd einerseits das vertrauensvolle Herantreten an die Hand schmackhaft zu machen, ihm aber andererseits das Auf-den-Zügel-Stützen zu versagen. Bei unseren auf Leichtrittigkeit selektierten modernen Warmblütern mit ihren leichten Genickformationen und sensiblen Mäulern muss besonders darauf geachtet werden, dass sie ans Gebiss herantreten, im Genick und im Hals nicht eng werden, sich nötigenfalls sogar in ihrer Oberlinie erst richtig öffnen. Nur dann wird eine reelle Versammlung einschließlich relativer Aufrichtung möglich sein. Wie viele Pferde, auch im ganz großen Dressursport, gehen heute „oben hingestellt“, absolut aufgerichtet und dementsprechend auch nicht mit heranschließender und durchschwingender Hinterhand. Nur dank ihres fantastischen Bewegungspotenzials fußen sie oft trotzdem noch recht deutlich vom Boden ab.
Feine Hilfen: Wenn man die Richtlinien oder die H.Dv.12 liest, stößt man auf eindeutige Vorgaben in der Ausbildung mit wenig individuellem Spielraum …
Michael Putz: Die H.Dv.12 war die Reitvorschrift für die berittene Truppe, betrifft also die militärische Reitausbildung. Die jungen Rekruten wurden von Wachtmeistern oder anderen Dienstgraden ausgebildet, die sicher nicht alle begnadete Reitlehrer waren. Da waren ganz genaue Vorgaben wichtig: So und so oft sollten sie die Zügel im Schritt herauskauen lassen, die Nickbewegung im Schritt mit den Händen begleiten und so weiter. Die Ausbildungsskala gab es zwar noch nicht in dieser Form, alle heute darin enthaltenen Ausbildungsgrundsätze waren aber schon in der H.Dv.12 angesprochen und erklärt worden. Bei dieser Form der Ausbildung war es natürlich nicht möglich, immer sehr individuell auf jedes Pferd-Reiter-Paar einzugehen, wo es stand. Was unsere heutigen Richtlinien anbelangt, sind diese, wie ihr Name schon sagt, auch nur eine Zusammenstellung mehr oder weniger allgemein gültiger Grundsätze für gute, individuelle Ausbildung, sie geben den Rahmen dafür vor. Es wird aber durchgängig immer wieder angesprochen und betont, wie unterschiedlich Reiter, aber auch Pferde sein können und es deshalb Voraussetzung für erfolgreiche Ausbildung ist, dieser Individualität Rechnung zu tragen. Es kann gar nicht Ziel eines solchen relativ schmalen Kompendiums sein, diesbezüglich in die Breite und Tiefe zu gehen.
Feine Hilfen: Die Ausbildungsskala wird ja unterschiedlich interpretiert. Ihnen zufolge soll sie auch heute nicht als strenge Stufenleiter verstanden werden.
Michael Putz: Sie soll überhaupt nicht als Stufenleiter verstanden werden. Deshalb ist es auch so wichtig, den Ausdruck „Skala“ in diesem Zusammenhang etwas umzudefinieren: Der gute, kompetente Reiter wird beim Reiten eines jungen Pferdes schon in den ersten Wochen die ersten fünf Ausbildungsgrundsätze mehr oder weniger parallel angehen und zu erarbeiten versuchen. Erst wenn das Pferd bezüglich Takt, Losgelassenheit, Anlehnung, Schwung und Geraderichten einigermaßen ausgebildet ist, macht es überhaupt Sinn, mit der versammelnden Arbeit ernsthafter zu beginnen. (Ich sage einigermaßen deshalb, weil erst das im Rahmen seiner Möglichkeiten auch versammelte Pferd bezüglich der anderen Prinzipien optimiert und wirklich durchlässig sein kann.) Was in der Skala zu kurz kommt, ist die Wichtigkeit der relativen Aufrichtung. Wir sehen deshalb, auch im gehobenen Sport, zu viele absolut aufgerichtete, oben hingestellte Pferde, die dementsprechend nicht mit losgelassenem, schwingendem Rücken, tatsächlich auch nicht reell versammelt gehen können. Die Durchlässigkeit begleitet die gesamte Ausbildung und vervollkommnet sich mit zunehmender Erfüllung der anderen Ausbildungsgrundsätze. Die in der Skala vorgenommene Reihung ist nicht dogmatisch zu verstehen. Mir ist es zum Beispiel wichtig, dass die Reiter ihre Pferde nicht erst Runde um Runde mit hingegebenem Zügel latschen lassen. Sie sollen am besten schon im Halten die Zügel einmal aufnehmen, das Maul fühlen und das Pferd sich am Gebiss abstoßen lassen. Sowie das Pferd im Genick nachgibt, darf es den Zügel herauskauen. Die Rekruten früher haben das sogar vom Boden aus gemacht. Bevor sie aufsaßen, haben sie vor dem Pferd stehend beide Daumen in die Trensenringe gelegt und leicht Druck aufgebaut, bis das Pferd zu kauen begann. Ohne Fummeln und Riegeln. Der leichteste Ansatz von Nachgiebigkeit wird dabei durch Leichtwerden mit der Hand belohnt.
Feine Hilfen: Das klingt beinahe baucheristisch.
Michael Putz: Bei Baucher war ja auch nicht alles verkehrt.
Feine Hilfen: Wenn das deutsche Reitsystem so gut ist – warum sieht man dann so selten pferdegerechtes Reiten?
Michael Putz: Als Erklärung ein Beispiel: Ich habe vor ein paar Jahren zwei Reiter unterrichtet, die bis Klasse S erfolgreich ritten. Ihre Pferde waren nicht locker in der Oberlinie, ließen sich deshalb auch nicht gut sitzen. Drei Tage nach unserer Reitlehre geritten gingen sie viel losgelassener und ihre Bewegungen gingen durch den ganzen Körper: Die Übergänge waren gut, sie ließen sich viel leichter sitzen. Die Reiter fragten sofort: „Wann kommen Sie wieder? Diese Art zu reiten ist viel anspruchsvoller, als „vorn halten, hinten stechen“. Das bekommt man zunächst ohne konsequente Unterstützung nicht hin.
Feine Hilfen: Wieso? Sind die Richtlinien unverständlich? Ist das System zu schwierig?
Michael Putz: Nun, gutes Reiten ist schon in der Praxis sehr anspruchsvoll und schon gar nicht leicht im Unterricht verbal rüberzubringen. Auch auf dem Papier es zu vermitteln ist sehr schwierig. Viele Ausbilder, die selbst gut reiten, finden aber im Unterricht nicht die richtigen Worte, um dieses System zu vermitteln, zumal sie heute in der Regel dafür keine Zeit bekommen. Mangels täglichen Unterrichts und meist sehr kurzer Unterrichtseinheiten, bei denen die Lösungsphase nicht unter Aufsicht geritten wird, bleibt die Arbeit an den Grundlagen auf der Strecke, Lektionen sind ja, gerade auch in den Augen der Schüler, viel wichtiger. Wahrscheinlich der entscheidende Punkt ist aber: „Richtiges“, pferdegerechtes Reiten wird auf Turnieren leider nicht mehr honoriert, und wenn doch, dann nur im Einzelfall. Das geht schon in Klasse A und L los: Wenn Reiter und Pferd richtig zufrieden und losgelassen die Aufgabe zeigen, heißt es sehr schnell: „Das ist brav, aber wenig geritten.“ Oder: „Das ist ja gar nicht versammelt.“ Die Überbewertung der angeblich „ausdrucksstarken“ Vorstellung gegenüber der losgelassenen ist weitgehend vorherrschend. In den höheren Klassen werden kaum Bewertungsunterschiede gemacht zwischen einem Vortrag, der von Losgelassenheit, reellem Schwung (dank durchschwingender Hinterhand) und seriöser Versammlung einschließlich relativer Aufrichtung geprägt ist und einem, bei dem das Pferd oben hingestellt, also absolut aufgerichtet geht, deshalb im Rücken fest ist, hinten wenig durchschwingt und sich eigentlich als Schenkelgänger präsentiert.
Feine Hilfen: Woran liegt das?
Michael Putz: Da muss ich die eigene Zunft kritisieren, die Richterschaft. Letztens ritt bei mir eine Reiterin, die mit ihrem achtjährigen Pferd auf St.-Georg-Niveau schon erfolgreich war. Als Erstes lockerte ich den Nasenriemen. Dann versuchte ich mit ihr über wiederholtes Zügel-aus-der-Hand-kauen-Lassen eine Öffnung der Oberlinie zu erarbeiten und die Nase des Pferdes vorzubekommen. Arbeitstrab war schwierig, weil das Pferd offensichtlich gewohnt war, überkadenzierten Trab, sprich gespannte Tritte, zu zeigen. Das Pferd hatte Mängel bezüglich des Geradegerichtetseins, deutliche Probleme mit der Rechtsbiegung und zeigte auch daraus resultierende Taktfehler. Ich sagte der Reiterin, sie solle erst einmal an losgelassenes Arbeitstempo denken und bitte vergessen, was die Richter in der Aufgabe sehen wollen. Dann wurde es besser, das Pferd machte allmählich auf und konnte sich dann auch schon besser rechts stellen und biegen. Ist das nicht traurig?
Feine Hilfen: Allerdings.
Michael Putz: Die Dame sagte: „Können Sie das auch Ihren Kollegen sagen?“ Wenn’s denn was nützen würde! Isabell Werth sagte auch mal in einem Interview: „Sie müssen verstehen, wir reiten, wofür wir die meisten Punkte bekommen.“ Ich beobachtete mal, wie Sjeff Jansen mit Anky van Grunsven die Unterschiede zwischen guter, ich sage mal klassischer Piaffe und Passage, für die man eine 7, vielleicht auch eine 8 bekommen würde, und eine, ich nenne das mal eine moderne Ausführung zeigte, für die es dann eben 9er oder gar 10er geben kann. Letzteres war dann eben die mit Spannung und absoluter Aufrichtung erzeugte spektakuläre Ausführung. Entweder erkennt man nicht mehr, ob sich ein Pferd durch den Körper bewegt, oder man hält es nicht mehr für wichtig.
Feine Hilfen: Bezieht sich diese Kritik an den Bewertungen auch auf die Beurteilung von Sitz und Einwirkung?
Michael Putz: Ja, durchaus. Ein ständiges Reiten in mehr oder weniger starker Rücklage wird bestenfalls bei sehr starker Ausprägung angesprochen, in der Regel aber kaum durch entsprechende Abzüge bestraft. Dabei sollte es inzwischen allseits bekannt sein, dass bereits geringfügiges Hintenübersitzen die Elastizität des Reiters in der Mittelpositur beeinträchtigt. Die leider immer noch vermittelte und seitens der Reiter instinktiv vorherrschende Vorstellung, ein Pferd durch diesen Sitz, gewissermaßen über das „Kreuz“ aktivieren zu können, ist gerade bei unseren sensiblen, leistungsbereiten modernen Warmblutpferden geradezu kontraproduktiv. Speziell in allen Übergängen ins Vorwärts, zum Beispiel zu Beginn jeder Verstärkung, animiert ein leichtes „In-die-Bewegung-Sitzen“ das Pferd anzutreten beziehungsweise zuzulegen, um das gemeinsame Gleichgewicht mit dem Reiter zu erhalten.
Das komplette Interview lesen Sie in der aktuellen Ausgabe.
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