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Maßlos – zwischen Desinteresse und Pflegesucht

(Foto: Fotokostic/Shutterstock.com)

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus der neuen Ausgabe 17.

In der Rubrik „Meinung“ veröffentlichen wir die persönlichen Ansichten eines Autors zu einem brisanten Thema. Diese müssen nicht mit denen der Redaktion übereinstimmen. Uns interessiert, welchen Standpunkt unsere Leser vertreten. Schreiben Sie uns an redaktion@feinehilfen.com oder diskutieren Sie mit unter diesem Beitrag.

 

In Pferdeställen trifft man gelegentlich wundersame Menschen. Und manchmal wähnt man sich im falschen Film, wenn man den Geschichten über Krankheiten und Therapieansätze, Futtermittel und deren vermeintlicher Wirkung, Trainingsphilosophien und Weltanschauungen lauscht. Und wenn man den ganzen Tag zugehört hat, ist man sich sicher: In der Reiterwelt läuft hier und da etwas falsch. Und zwar grundlegend. Wieso fällt es Reitern so schwer, das Maß zwischen zu viel Fürsorge und Vernachlässigung zu finden?

von Constanze Röhm

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Selfie gefällig? Manchen Reitern ist Selbstdarstellung wichtiger als die Pferdegesundheit.

 

 

Sobald es um das Pferd geht, streikt manchmal der gesunde Menschenverstand. Das richtige Maß in der Gesundheitspflege und Gesunderhaltung ist eine schwierige Angelegenheit geworden. Das liegt vor allem am fehlenden Wissen und der mangelnden Bildung rund um das Pferd. Zudem fehlt häufig die Fähigkeit, kritisch mit Informationen aus dem Internet umzugehen, Forschungstexte zu lesen und zu verstehen und jeden Aspekt auch mal aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten. Seit vielen Jahren sind Internetforen und -plattformen im Aufwind. Damit sammelt sich online ein gewaltiger Bildungsschatz an, der aber oft oberflächlich ist. Man findet von allem etwas, aber nichts richtig. Und ohne jegliche Kontrolle oder kritische Evaluation der Inhalte werden Informationen weiterverbreitet, und das in teilweise grotesken Ausmaßen. Man muss nur laut genug Angst erzeugen, möglichst extrem beleidigen und auch Falsches einfach nur immer wieder wiederholen – irgendjemand springt garantiert darauf an und ein neuer Mythos ist geboren.

Als Pferdebesitzer stellt man sich täglich neuen Herausforderungen in Form von Haltung, Fütterung und Umgang. Der Kauf eines Pferdes bedeutet das spannende, lebenslange Lernen und Entdecken neuer und alter Dinge. Das Wissen rund um das Pferd ist in ständigem Wandel, weswegen man bei größeren Problemen besser Hilfe bei Experten suchen sollte, die umfassend und profund ausgebildet sind.

Statt studiert wird heute leider konsumiert. Schnell wird etwas gegoogelt, im Forum gefragt oder darüber gechattet. Meist unbekannte Menschen antworten zum Gesundheits- oder Trainingszustand eines ihnen völlig unbekannten Pferdes. Sehr häufig werden dann Krankheiten vermutet, von denen man vom Hörensagen etwas weiß. Damit wird Verunsicherung gesät. Beim Informationsempfänger entsteht ein Schuldgefühl, warum man selbst nicht darauf gekommen ist.

Interessanterweise haben diese Meinungen Dritter aus dem Internet oft deutlich mehr Gewicht als die eines Tierarztes, eines gut ausgebildeten Therapeuten, eines Wissenschaftlers oder eines Hufspezialisten. Dabei darf sich heute jeder Therapeut nennen. Ein 4-tägiger Fernlehrgang reicht. So kommt es häufig vor, dass zwar ein Spezialist gerufen wird, man der „unbekannten Expertin von Facebook“ jedoch viel mehr Glauben schenkt. Und mit diesem Informationskonsum scheint sich eine ganz eigene Wahrnehmung rund um das eigene Pferd zu entwickeln.

In einem aktuellen Fall wurde einem Pferd eine Übersäuerung per Ferndiagnose attestiert. Diese Diagnose wurde auf einem Schmierzettel schriftlich übermittelt. Das Pferd solle Basenwasser trinken. Die tatsächliche pH-Wertmessung zeigte jedoch viel zu hohe (basische) pH-Werte. Trotzdem wurde aufgrund der Ferndiagnose von der Besitzerin selbst behandelt. Da ist man sprachlos.

Glücklicherweise handelt es sich bei diesen extremen Fällen immer noch um Einzelfälle. Doch damit das so bleibt, muss profunde Bildung rund um das Pferd ein Standard werden.

 

 

Durch Unsicherheit und Informationskonsum zur Pflegesucht

 

Der heutige Reitermarkt ist ein Frauenmarkt – die meisten Reiter sind weiblich. Manche reiten schon ein Leben lang, andere kommen nach Kindern und Karriere wieder zum Pferd. Das eigene Pferd ist oft die lang ersehnte Erfüllung eines Jugendtraums, da möchte man nichts falsch machen. Nun hat man ein junges Pferd gekauft, mit wallender Mähne und glitzerndem Fell. Ein wenig lebhaft vielleicht, ungefestigt im Gemüt. Manch eine frischgebackene Besitzerin merkt, dass sie nach einer Reitpause von 20 Jahren diesem jungen, energiegeladenen Tier nicht gewachsen ist, weder in der Haltung noch im Umgang. Putzen und Füttern, das klappt gut, da gibt das Pferd eine positive Rückmeldung. In Fragen der Haltung oder des Umgangs hingegen zeigt das Pferd einfach nicht die nötige Dankbarkeit, die man für seinen persönlichen Einsatz erwartet. Schließlich kümmert man sich hingebungsvoll um das Tier.
Tief im Bauch der Besitzerin regt sich außerdem leise die Angst. Vielleicht ist es schon zu Zwischenfällen gekommen, weil man das Unglück nicht hat kommen sehen und man statt gemeinsam über blühende Wiesen zu galoppieren am Strick durch den Schlamm gezogen wird.
Es ist unglaublich schwierig, sich selbst und anderen einzugestehen, dass man sich vielleicht übernommen hat mit dem ersten eigenen Pferd. Dass man das junge Tier nicht so souverän ausbilden kann, wie man das geplant hatte. Und so beginnen manche Besitzerinnen, Wege um die Ausbildungssituation herum zu finden. Ein einfacher Mechanismus zum Selbstschutz: das Vermeidungsverhalten. Normale Dinge werden plötzlich zu unüberwindbaren Hürden emporgehoben. Jugendlicher Pferdeübermut wird zur Verhaltensstörung. Ein kleines Erschrecken löst direkt ein Trauma aus, und ungewolltes Verhalten wird unbewusst durch Loben verstärkt.
Eine leichte Schuppenbildung im Fell wird eine schwere Stoffwechselerkrankung, weil man sie nicht einordnen kann und im Internet die Worte „Pferd“ und „Schuppen“ gegoogelt hat. Nach kurzer Zeit findet man auch für jeden quer sitzenden Pups definitiv eine Krankheit. Die hängende Unterlippe in Ruhemomenten wird eine schwere Viruserkrankung, die auf das Gehirn schlägt. Die schlecht bemuskelte Oberlinie wird ein irreparabler Schaden am Trageapparat, ungeduldiges Scharren ein Ausdruck emotionaler Zerrissenheit. Das Pferd ist also krank und emotional verstört, weshalb es mit dem Umgang und dem Reiten nicht so klappt. Endlich hat man den Grund gefunden. Davon lebt eine ganze Industrie, die mit teilweise perfiden Mitteln die Kundinnen bei Laune hält.

Die Grundinformation, die oft übermittelt wird, lautet: „Wenn du nicht dies oder jenes machst oder fütterst, bist du eine schlechte Pferdebesitzerin!“ Dabei wird gezielt der Mutterinstinkt angesprochen.

Diese Pferdebesitzerinnen konsumieren Informationsfetzen aus dem Internet, Kräuter und Kuren, Pulver und Globuli und neueste Trainingskonzepte. Hektisch wird versucht, jegliche Art von vermeintlich störenden Einflüssen zu vermeiden. Es wird gebürstet und gekämmt, gesprüht und gesalbt, gewogen und gerechnet auf das Mikrogramm organischen Einhornstaubs. Aber bloß nicht reiten, das arme Pferd ist ja schließlich krank … Die Krankheit wird zum Selbstzweck, und das Gefühl des „Gebrauchtwerdens“ übertüncht das Gefühl der Hilflosigkeit dem 500 Kilo schweren Tier gegenüber. Und so werden die Therapien länger, die Futtermittel- und Therapeutikazusammenstellungen wilder, und kaum hat man eine Krankheit im Griff, findet man die nächste. Im Zweifelsfall im Internet. Aus Pferdeliebe wird Pflegesucht. Und wenn man lange genug eine Krankheit pflegt, die nicht da ist, wird auch das gesündeste Pferd irgendwann wirklich krank. Und wehe dem, der das eigentliche Problem anspricht: „Du weißt nicht genug und hast Angst.“
Ein Weg aus einer solchen Pferd-Mensch-Krise ist nicht leicht zu finden. Sobald etwas mit Sinn und Verstand sowie der nötigen Ruhe geschieht, ist alles gut. Jede Möglichkeit, die einem Menschen hilft, besser mit seinem Pferd umgehen zu können, sicher und mit Freude, ist legitim. Jedes tierschutzkonforme Mittel, um ein Pferd gesund, fit und fröhlich zu erhalten, ist das richtige Mittel. Wenn jedoch eines dieser Dinge mehr ein Selbstzweck statt eine Lösung ist, dann tritt man auf der Stelle.

 

Das andere Extrem …

 

… bringt ebenfalls Probleme mit sich. Denn anders als die ängstliche Pferdebesitzerin gibt es auch Pferdebesitzer/-innen, die es eigentlich gar nicht interessiert, ob das Pferd gesund ist oder nicht. Auch das scheint ein Phänomen der Generation Internet zu sein. Wichtig ist, dass das Pferd funktioniert und gut auf Selfies aussieht. Neben einem Mangel an Pferdewissen trifft man hier häufig auf Desinteresse, fehlende Empathie oder auch einfach nur Egozentrik. Ein Pferd darf nichts kosten und muss das tun, was die Besitzerin will. Und wenn es das nicht tut, ist der Griff zu Hilfsmitteln nahezu selbstverständlich. Ohne Reflexion über Sinn und Unsinn von Hilfszügeln, Hebelgebissen oder anderen Meinungsverstärkern wird das eingesetzt, was vermeintlich funktioniert. Schließlich gibt man viel Geld für das Pferd aus.

Auf einer großen Pferdemesse mit Turnier habe ich jungen, zierlichen Frauen beim Abreiten zugesehen und war erschüttert über die Brutalität, mit der sie ihre Pferde vor der Prüfung abgekocht haben. Es wurde immer wieder mit Schwung das Hebelgebiss zur Maximalwinkelung gerissen, bis die Pferde den Kopf tief, tiefer und noch tiefer behielten.

Auch diese eher ignoranten oder desinteressierten Pferdebesitzerinnen konsumieren Halbwissen aus dem Internet. Meist aber eher, um sich zu echauffieren, was andere falsch machen, ohne sich selbst dabei betrachten zu können. In diesen Kreisen fällt ein krankes Pferd eher selten auf. Dieser Typ Besitzerin weiß aber auch wenig über das eigene Pferd. Weder was es frisst, noch wie lange es auf die Weide kommt, wer es füttert oder mistet, wenn man nicht selbst kommen kann. Zu Tierarztterminen oder zu Schmiedeterminen ist sie nicht anwesend.

 

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Selfie gefällig? Manchen Pferdebesitzerinnen kommt es mehr auf Selbstdarstellung an als aufs Pferd. (Foto: Fotokostic/Shutterstock.com)

 

Voneinander lernen

Reiter sind größtenteils ein lustiges, sehr engagiertes Völkchen, und zum Glück sind Pferdebesitzer, die sich kümmern und bilden, deutlich in der Überzahl. Umso wichtiger ist es, im Stall nach links und rechts zu schauen und zu beobachten, was andere Pferdebesitzer für das Wohl ihrer Tiere tun. Dabei ist es wichtig, immer konstruktiv und positiv zu bleiben. Von der größten Tüddeltante lernt man vielleicht die Mähnen- und Schweifflechtkunst, der ängstlichsten Besitzerin kann man eventuell mit Erfahrung und Tipps zur Seite stehen. Und bei desinteressierten oder ignoranten Stallgenossen kann man eventuell die Neugierde wecken, indem man einfach ein selbst ausgebildetes, entspannt und fröhlich gehendes und gesundes Pferd hat.
Reiten bildet den Charakter – so sagt man. Eine Gemeinschaft kann dafür sorgen, dass eine Charakterbildung auch in die richtige Richtung geht. Wissen, positives Denken und Demut gegenüber dem Pferd sind die Schlüsselwörter dazu. Damit wäre allen geholfen. Vor allem den Pferden.

 

Constanze Röhm führt die größte unabhängige wissenschaftliche Beratung für Pferdeernährungs- und Gesundheitsfragen in Deutschland. Als Referentin und Dozentin hält sie Vorträge, Seminare und Webinare für Pferdebesitzer, Stallbetreiber, Therapeuten und Tierärzte. Zur individuellen Beratung von Pferdehaltern und Tierärzten reist sie im Rahmen ihrer Fahrpraxis deutschland- und weltweit. Sie studierte und lebte einige Jahre in den Niederlanden und in England und graduierte zum MSc Equine Science an der renommierten University of Essex. Als Dozentin lehrte sie u. a. an einem Institut der Universität Wageningen. Sie gilt als Spezialistin für Fressverhalten, Gastrointestinalerkrankungen und widmet sich der Erforschung der Darmflora.

 

 

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Category: Besondere Themen

Comments (1)

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  1. Veronika sagt:

    Hey.
    Gut geschrieben und leider (zu) oft wahr. Lese auch hin und wieder in sozialen Netzwerken das entweder ersteinmal im Netz geforscht/gefragt wird statt gleich einen Tierarzt zu rufen obwohl aus der Fragestellung erkennbar ist das dringend ein Tierarzt erforderlich ist.
    Oder aber: es wurde ein Tierarzt gerufen. Dieser hat eine Diagnose erstellt und eine Therapie eingeleitet. Pferde-Besi fragt im Netz ob das was der TA vorgeschlagen hat wohl richtig sein kann.

    Auch aus meiner Sicht fehlt häufig schlichtweg der gesunde Menschenverstand und die Fähigkeit zu beobachten (sich und das Pferd).

    VG
    Vero

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