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Gestresstes Freizeitpferd?

Haben unsere Reitpferde Stress in ihrem umsorgten Leben mit dem gemanagten Umfeld? Kann es wirklich sein, dass wir manchmal Stress, der unsere Pferde belastet, übersehen? Ja, meint Verhaltensbiologin Marlitt Wendt. Warum, erklärt sie in ihrem Artikel.

 

(LESEPROBE. Den vollständigen Text finden Sie in Feine Hilfen Ausgabe 6).

Foto: Cornelia Ranz

Haben unsere Pferde Stress in ihrem umsorgten Leben? (Foto: Cornelia Ranz)

 

Stress im Pferdeleben hat viele Gesichter. Oft genug tappen wir Pferdeliebhaber in eine Stressfalle, ohne es überhaupt zu bemerken. Denn Stress ist in unserem Alltag mit den Pferden ein ständiger Begleiter. Wir bringen ihn oft selbst mit auf die Weide, er resultiert aus den kleinen Reibereien innerhalb der Herde oder er entsteht durch Missverständnisse zwischen Pferd und Mensch im Training. Die Erscheinungsformen und Auswirkungen von Stress sind äußerst vielfältig: Es gibt kurzfristigen Stress, dessen Auswirkungen uns im Alltag noch am ehesten auffallen. Chronischer Stress baut sich über einen langen Zeitraum auf. Unterschiedlich ist die Art, wie Pferde damit umgehen. Manche gehen mit einem Stresserlebnis aktiv um, andere reagieren eher passiv.

Gemeinsam ist allen verschiedenen Erscheinungsformen, dass der Pferdekörper durch einen sogenannten Stressor, also einen Außenreiz, der das Pferd in physischer oder psychischer Hinsicht belastet, beeinträchtigt wird. Die Stressreaktion im Körper ermöglicht dem Pferd, diesen außergewöhnlichen Belastungen standzuhalten und sein seelisches Gleichgewicht und seine körperliche Balance wiederzufinden. Die Stressoren können auffällig und allbekannt sein, wie etwa die Reaktion auf ein Raubtier in der Mustangherde, oder viel weniger augenscheinlich – wie die schleichende Stressreaktion auf eine unharmonische Gruppenkonstellation im Offenstall oder zu wenig Raufutterangebot bei gleichzeitigem Platzmangel. All diese Stressoren sind zudem höchst individuell. Genauso einzigartig, wie die Persönlichkeit eines jeden Pferdes ist, so einzigartig ist auch sein spezieller Umgang mit Stressauslösern und seine körperlichen und psychischen Reaktionen darauf. Während das eine Pferd relativ viel Unruhe toleriert und ein stabiles Nervenkostüm besitzt, quittiert ein anderes schon ein vermeintlich leichtes Unwohlsein mit plötzlichem Durchfall oder gar mit Koliksymptomen.

Stress – sinnvolle Überlebensstrategie

Für jedes Lebewesen ist Stress ein natürlicher Begleiter des Lebens. Das körpereigene Stresssystem des Pferdes kann sofort, im Bruchteil einer Sekunde, auf negativ empfundene Stressoren reagieren. Das Pferd ist durch seine Stressreaktionen in der Lage, von null auf hundert zu beschleunigen, all seine Kräfte auf den Punkt zu mobilisieren und einer möglichen Bedrohung unmittelbar zu begegnen. Gut gerüstet hilft diese Überlebensstrategie dem Pferd beispielsweise dabei, sofort Energie in seiner Muskulatur zu mobilisieren, den Kreislauf zu aktivieren und die Reaktionsgeschwindigkeit zu erhöhen. Gestresste Pferde sind höchst aufmerksam, sehr sensibel auf kleinste Veränderungen in der Umgebung und bereit zum sofortigen Handeln. Das rationale Denkvermögen allerdings ist in einer klassischen Stressreaktion stark eingeschränkt.

Wie wirkt sich Stress auf den Pferdekörper aus?

Vereinfacht gesagt, wirkt Stress in einem stammesgeschichtlich gesehen sehr ursprünglichen, alten Bereich des Pferdegehirns, dem Stammhirn. Dieser Teil wird auch Reptiliengehirn genannt, da sowohl Pferd als auch Mensch in dieser Hinsicht vergleichbar mit den evolutionsgeschichtlich älteren Reptilien nach einem bewährten, Millionen Jahre alten Muster agieren. Dieses spezielle Hirnareal ist in der Lage, auf einen Stressreiz mit einer effektiven Kurzschlussreaktion zu antworten. Das Gehirn soll den Körper für eine Flucht-oder-Kampf-Reaktion mobilisieren. Beide Sofortmaßnahmen fordern dem Körper alle verfügbaren Energien ab. Im Ernstfall ist es eben wichtiger, sein Leben zu retten, als sich weiter mit dem Fellkraulen oder dem Verdauen zu beschäftigen. Daher führt eine Stressreaktion im Gehirn dazu, dass sich der Herzschlag intensiviert, die Durchblutung gesteigert wird, die Sinne geschärft werden und der Blutzuckerspiegel sofort ansteigt. So gerüstet ist der Pferdekörper extrem leistungsbereit und gleichzeitig schmerzunempfindlich. Dabei spielen auch die sogenannten Stresshormone im Körper eine entscheidende Rolle. Im Zentrum der Stressreaktion steht die Funktionseinheit aus Hypothalamus und Hypophyse, also der Hirnanhangsdrüse im Zwischenhirn, die eine Kontroll- und Steuerungsfunktion für das hormonelle System übernimmt. Zunächst sendet der Hypothalamus den Botenstoff CRH (Corticotropin-Releasing-Hormon) an die Hypophyse, die daraufhin das Hormon ACTH (Adrenocorticotropes Hormon) an die Nebennierenrinde schickt. Die Nebennierenrinde bildet daraufhin das Stresshormon Cortisol, und das Nebennierenmark schüttet die Hormone Adrenalin und Noradrenalin aus. Dieser einzigartige Cocktail aus den unterschiedlichen Stresshormonen bewirkt die oben beschriebene Stressreaktion im Körper. Einmal ausgeschüttet verschiebt sich das innere Gleichgewicht des Tiers in Richtung der erhöhten Alarmbereitschaft. Kann das Pferd der potenziellen Bedrohung entkommen, indem es etwa ein Fluchtverhalten ausführt, reguliert sich dieser hormonelle Ausnahmezustand schnell wieder und das Pferd findet zurück in sein seelisches Gleichgewicht. Diese blitzschnell ablaufende biologische Kettenreaktion hat sich evolutionär als sinnvoll erwiesen, da das Pferd in der Natur immer wieder bedrohlichen Situationen ausgesetzt ist und mit diesen adäquat umgehen muss. Es muss jederzeit darauf vorbereitet sein, einem Raubtier zu entkommen, eine Verletzung zu ertragen oder mit Hunger und Kälte zurechtzukommen.

Totaler Kontrollverlust

Das gerade beschriebene Stresssystem tritt immer dann in Kraft, wenn es sich um kurzfristigen Stress handelt. Es greift allerdings nicht mehr vollständig, wenn das Pferd durch sein eigenes Verhalten keine Chance hat, dem empfundenen Stress etwas entgegenzusetzen, wenn es also keine natürlichen Lösungsstrategien hat oder der Stressor einfach immer weiter einwirkt. Im Extremfall kann sogar der gesamte Stoffwechsel entgleisen und aus seinem natürlichen Gleichgewicht geraten. Dieser Dauerstress kann chronische Folgen haben. Es kann Monate oder gar Jahre dauern, einen einmal stressbedingt aus dem Gleichgewicht geratenen Stoffwechsel wieder in seine vorgesehene Balance zurückzuführen. Besonders schädigend wirkt sich das bei lang anhaltendem Stress immer weiter ausgeschüttete Cortisol aus. Aus einem über viele Jahre erhöhten Cortisolspiegel resultieren eine große Anzahl an möglichen Krankheitsbildern und reichen von Immun- und Muskelschwächen, Infektanfälligkeit, Gedächtnisschwächen, Neigung zu Verdauungsproblemen bis hin zur Bildung von Tumoren und Magengeschwüren.
Und die betreffen nicht nur Sportpferde. Betrachtet man die Häufigkeit von Magengeschwüren oder chronischen Verdauungsproblemen wie Kotwasser, wird deutlich, wie häufig sich Stress auf die Gesundheit von Freizeitpferden auszuwirken scheint. Verschiedene Untersuchungen gehen von erschreckend hohen Prozentsätzen betroffener Pferde bis zu 80 Prozent aus. Befindet sich das Pferd durch eine entgleiste Stressreaktion ständig in Alarmbereitschaft, wird das also weitreichende gesundheitliche Konsequenzen haben.
Neben den typischen stressbedingten Krankheitsbildern hat Dauerstress auch Einfluss auf die Pferdepsyche. Bekannt ist, dass stressbedingt leicht unterschiedliche Verhaltensstörungen wie Koppen oder Weben, generalisierte Angststörungen, Hyperaktivität oder Lethargie und sogar Depressionen entstehen können (siehe meinen Artikel in Feine Hilfen 4).
Welches Pferd wie stressanfällig ist und wie stark es auf einen bestimmten Stressor reagiert, ist individuell verschieden und von Charakter und Vorerfahrungen des Pferdes abhängig. Daneben gibt es diverse rasse- oder abstammungsbedingte Neigungen für bestimmte Verhaltensreaktionen. Beispiel: Bestimmte Blutlinien bei Vollblütern neigen erwiesenermaßen zu Verhaltensstörungen wie Weben. Gerade temperamentvollere Rassen neigen eher zu Hyperaktivitätsproblemen als die ruhigeren Kaltblutrassen. Doch diese haben nicht weniger Stress. Es gibt introvertierte Persönlichkeitstypen, die sich bei Dauerstress eher von der Außenwelt abkapseln und sich immer mehr zurückziehen. Sie fressen ihren Kummer passiv in sich hinein und neigen dabei eher zu chronischen Krankheitsbildern wie unerklärlichem Durchfall oder zu depressiven Verstimmungen und phlegmatischem Auftreten. Aktive Stresstypen hingegen reagieren auf empfundenen Stress deutlicher nach außen orientiert. Sie werden unruhig, im Extremfall hyperaktiv und richten teilweise auch aggressive Verhaltensweisen gegen sich selbst oder gegen Herdenmitglieder und Menschen.

 

Typische und leicht zu übersehende Stressfelder

Pferde sind äußerst sensible Geschöpfe, sie haben ein sehr gutes Gespür für feinste Veränderungen der emotionalen Grundstimmung und nehmen über ihre leistungsfähigen Sinnesorgane Abweichungen von ihrem gewohnten Lebensumfeld sofort wahr. Auf viele der in der heutigen Lebensrealität auf die Pferde einwirkenden Stressoren sind sie von Natur aus nicht vorbereitet. Pferde haben keine Lösungsstrategien für ein Miteinander mit vielen anderen ihnen unbekannten Pferden auf engstem Raum. Es entspricht nicht ihrer Natur, ständig aus einem Herdenverband herausgerissen und in eine andere Gruppe integriert zu werden. Jeder Stallwechsel bedeutet also Stress – sowohl bei dem Pferd, das umzieht, als auch bei denen, die zurückbleiben oder in deren Gruppe es integriert werden soll. Sicher lässt sich nicht jeder Umzug vermeiden, aber vielleicht sollte man sich die Entscheidung zum Stallwechsel nicht ganz so leicht machen. Pferde haben in der Natur sehr stabile soziale Beziehungen, sie pflegen ihre Freundschaften oft über Jahrzehnte.
Ein weiteres Problem ist die Fütterung. Futter steht dem Pferd in freier Wildbahn entweder sowieso zur Verfügung oder das Pferd kann sich frei bewegen und sich auf die Suche nach geeigneten Futterstellen begeben. In menschlicher Obhut führt die räumliche Enge und ein begrenztes Futterangebot oft zu sozialen Spannungen, die besonders empfindliche Pferde nicht kompensieren können. Viele sind zusätzlich auch von den Anforderungen ihrer Menschen überfordert oder von der gewählten Ausbildungsmethode frustriert.

/Ü2/ Wie gestresst ist mein Pferd?

Sicher kann man nicht jedes erdenkliche Problemfeld frühzeitig erkennen oder umgehen, aber es ist äußerst wichtig, den Stress des eigenen Tiers wahrzunehmen und zu versuchen, seinen Alltag positiv zu beeinflussen. Passt vielleicht ein bestimmtes Pferd vom Wesen her nicht zu den übrigen? Ist der Liegebereich ausreichend groß für alle Pferde? Kann ein einziges Pferd den Zugang zum Heu zu stark kontrollieren? Je mehr wir versuchen, uns in unser Pferd und seine Wahrnehmungswelt einzufühlen, desto stressfreier und harmonischer können wir sein Leben gestalten. Dabei gilt, dass sich ein Pferd immer dann einem ausgeglichenen emotionalen Zustand annähert, wenn seine Umgebung sich am natürlichen Leben der Pferde orientiert, also ihr evolutionäres Erbe und ihre Bedürfnisse respektiert. Pferde empfinden Stress, wenn sie nicht in einer ihnen wohlgesinnten Gruppe leben dürfen; sie sind frustriert, wenn sie keine ausreichenden Bewegungsanreize haben, und unglücklich, wenn sie keine Kontrolle über ihre grundlegenden Bedürfnisse besitzen. Gerade diese Kontrollmöglichkeit wird häufig unterschätzt oder gar nicht wahrgenommen. Jedes Lebewesen braucht das Gefühl, Kontrolle über sein eigenes Leben, seine Wünsche und Bedürfnisse zu haben. Hat es das nicht und fühlt es sich ständig eingeschränkt oder bevormundet, so bereitet das Stress und bedeutet im Extremfall den Verlust der Lebensfreude. Aus meiner Sicht gibt es viel zu viele Pferde, die kaum über ihr Leben bestimmen können. Oft können sie nicht mal entscheiden, ob sie gern in der prallen Sonne oder lieber im Schatten stehen möchten. Oder sie haben im Training nicht die Wahl, auch einmal Nein zu sagen, sondern müssen immer nach den Wünschen des Menschen funktionieren. Der Gedanke an ein selbstbestimmtes Leben mit Wahlmöglichkeiten ist so wichtig für das psychische Wohlbefinden von Pferden, dass man ihm gar nicht genug Aufmerksamkeit schenken kann.

Überfordert oder gelangweilt?

Wichtig ist, nicht aus Angst vor möglichem Stress von einem Extrem ins andere zu verfallen und Pferde buchstäblich in Watte zu packen. Ein stressfreies Leben bedeutet eben nicht, dass gar nichts passiert, sondern eine gesunde Mischung aus Anregung und Entspannung zu schaffen. Viel zu viele Pferde leiden quasi am „Bore-out-Syndrom“, sie haben zu viel „freie“ Zeit und keine sinnvollen und artgerechten Beschäftigungsmöglichkeiten. Es gibt nichts in ihrer Umgebung zu erkunden, keine Futterstellen zu entdecken oder Sozialpartner, mit denen sie interagieren dürfen. In der Natur wäre das Pferd ständig „auf Achse“. Es müsste sein Futter über weite Strecken suchen, seine Nachkommen betreuen und sich in das Herdenleben aktiv einbringen.
Die Reaktionen auf Langeweile sind unterschiedlich: Während sich der eine Pferdtyp in einer reizarmen Umgebung immer mehr aus Langeweile zurückzieht, entwickelt ein anderer immer mehr ungesunde „Spleens“. Wer einem Pferd jegliche geistigen Anreize vorenthält, der nimmt ihm letztlich auch das, was sein neugieriges und kluges Wesen ausmacht, einen essenziellen Teil seiner Persönlichkeit. Das ist es, was Stress so gefährlich macht: Er raubt dem Pferd mit seinen vielfältigen negativen Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden buchstäblich die Seele, wenn er nicht von uns erkannt wird.

 Vorbeugen ist besser als heilen

Stressbedingten Verhaltensproblemen und Krankheitsbildern kann man vorbeugen, indem man versucht, dem Pferd ein abwechslungsreiches, vielfältiges Leben zu ermöglichen. Pferde brauchen eine „kleine“ oder besser eine „große“ Wildnis zum Erkunden, passende Artgenossen, und sie brauchen Ausbildungsmethoden, die sie in ihrer Persönlichkeit wertschätzen und in denen sie ihre Individualität ausleben dürfen. Sicher kann kaum ein Pferdehalter einem Pferd ein wirklich natürliches Leben in einer „echten“, gewachsenen Herde mit genügend Raum und ständigem Futterangebot bieten. Es ist auch gar nicht so einfach zu sagen, was eigentlich dieses „natürliche“ Leben genau sein soll. Ehrlich wäre es, zu sagen, dass wir das bis heute nicht bis ins letzte Detail wissen. Wir können nur Tendenzen aufzeigen. In der Natur ist das Pferdeleben so vielfältig, dass es kaum fest definierbare Gemeinsamkeiten zwischen allen Wildpferdeverbänden gibt. Es gibt die typischen Steppenbewohner, die weite Strecken laufen und an große Trockenheit angepasst sind; es gibt aber auch Pferdetypen, die Waldbewohner waren und ein ganz anderes Nahrungsspektrum bevorzugten. Auch wird ein Hengst in der Natur ein ganz anderes Leben führen als eine Stute und anderen Frustrationen und Stressoren ausgeliefert sein.

 

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Category: Besondere Themen

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