banner ad

Emotionslos Reiten?

In der Rubrik „Meinung“ veröffentlichen wir die persönlichen Ansichten eines oder mehrerer Autoren zu einem brisanten Thema. Deren Ansichten müssen nicht mit denen der Redaktion übereinstimmen. Uns interessiert, welchen Standpunkt unsere Leser vertreten. Sie möchten Ihre Meinung zum Thema „Emotionslos reiten“ äußern? Schreiben Sie uns an: redaktion@feinehilfen.com, oder diskutieren Sie hier in der Kommentarfunktion unserer Website mit!

Foto 1

Sollten wir unsere Emotionen zuhause lassen? (Foto: Sibylle Wiemer)

 

von Sibylle Wiemer

Eine motivierte Kursteilnehmerin betritt mit ihrem Pferd die Reithalle. Ihr Wallach reißt wiederholt den Kopf hoch, rempelt sie an und bleibt keine Sekunde stehen. Sie sagt, sie hat ihn selbst gezogen, „ihr Baby“ habe einen starken Charakter und würde sie manchmal „veräppeln“. Die Unterrichtseinheit entwickelt sich intensiv: Nach einer Weile steht das Pferd in entspannter Körperhaltung in respektvollem Abstand neben der Besitzerin. Nun weint sie. Auf keinen Fall wolle sie „ständig der Bestimmer“ im Leben ihres Pferdes sein, sie möchte ihrem Pferd ein gleichberechtigter Freund sein. 

Die Reaktionen auf der Tribüne machen die Situation noch schwieriger für sie. Es ist ihr peinlich, zu sehen, wie sich ihr Pferd vor den Augen der Zuschauer in wenigen Minuten verändert hat. All ihre Ausreden, Erklärungen und Interpretationen zerfallen wie ein Kartenhaus. Was wird in Zukunft sein? Wird ihr Pferd sie noch lieben, wenn sie eine konsequente Führungsrolle übernimmt? Sie will nicht als Diktator auftreten, aber sich auch nicht auf der Nase herumtanzen lassen. Was werden die Stallkolleginnen darüber denken? Die Reihe von Sorgen und Nöten scheint unendlich. Sie hofft durch Nichtstun keine Fehler zu machen. Dem angeschlagenen Selbstbewusstsein hilft auch die strassbesetzte rosa Schabracke nicht. Sie entschuldigt sich bei ihrem Pferd und gibt ihm mehrere Leckerli.

Erkennen Sie sich in dieser Besitzerin wieder? Oder kennen Sie jemanden, der jemanden kennt, der so denkt? Dann gehören Sie zu einer großen Gruppe Reiter. Diese Frau will, wie andere Reiter und Besitzer auch, das Beste für ihr Pferd. Tierliebe und Sorgfaltspflicht, aber auch Ansprüche, die sie oder andere an sich selbst stellen, begründen die Zuwendung zum Pferd. Neben dem schicken Markenoutfit für Pferd und Reiter hofft sie durch den Erwerb verschiedenster Leckerli das Pferd an sich binden zu können.

Ist Ihnen, lieber Leser, bewusst, wie viele Emotionen der moderne Pferdebesitzer in seinem Hobby wiederfindet? Stichwort Leckerli: Heutzutage wird in jeder Werbung suggeriert, dass es uns besser geht, wenn wir kauen, Süßes schmecken oder essen. Essen per se als erstrebenswert dargestellt: Das Kind, das Heimweh hat, bekommt einen Pudding, ist dadurch auch besser in seiner Spielgruppe integriert; heile Familien mit Vater, Mutter und Kindern erleben harmonische Frühstückssituationen, in denen ein Kind das andere mithilfe eines bestimmten Brotaufstrichs beeinflusst; Hunde lieben ihre Besitzer, weil sie einen bestimmten Kauknochen bekommen; Katzen sind besonders niedlich, wenn sie ein spezielles Futter fressen, und Pferde sehen besser aus, wenn sie ein Spezialmüsli kauen … Die Liste ist endlos, und immer wird gegessen und gefüttert, um Liebe zu zeigen, zwischen Partnern, Eltern und Kind, zwischen Mensch und Tier. Essen ist Ersatz für alle möglichen Gefühle. Es ist nicht nur lebenserhaltende Nahrungsaufnahme, sondern Essen heilt, stabilisiert Beziehungen und fördert ein liebevolles Miteinander. Der moderne Mensch wird ständig mit diesen unterschwelligen Botschaften überhäuft, ebenso ist es im Bereich des Reitsports. Ein gigantischer Markt an Zusatz- und Spezialfutter, Leckerli und anderen Beigaben suggeriert dem Pferdebesitzer: „Wenn du dies oder das nicht anschaffst, musst du ein richtig schlechtes Gewissen haben, denn dann fehlt es dir an Liebe.“ So kommt das Füttern von einfachem Hafer als Kraftfutter einer unterlassenen Zuwendung und Zuneigung gleich.

Tierbesitzer, besonders die weiblichen, wollen ihr geliebtes Tier liebkosen, mit Leckerli verwöhnen oder ihm überschwänglich mitteilen, wenn sie mit seiner bloßen Anwesenheit, seinen Handlungen oder Verhaltensweisen zufrieden sind. Doch wird dies funktionieren? Klar: Pferde brauchen Lob. Sie genießen Futter und sind in ihrem Bemühen darum sehr kreativ. Als Dauerfresser ist es genetisch verankert, sich gute Futterquellen zu merken, und die Futterstelle „Bauchtasche“ versiegt nie, wird dahingehend stets kontrolliert. In der Natur wird kein Pferd von einem Herdenkollegen gefüttert, schon gar nicht, um eine Beziehung aufzubauen oder zu festigen. Aber auch wenn das Pferd das Leckerli als Liebesbeweis nicht erkennt, der Mensch fühlt sich damit besser. Dasselbe beim Kauf von Zubehör. Die Frau von heute ist stolz: „Für meinen Schatz ist mir nichts zu teuer!“ Bescheidenheit findet keinen Platz im modernen Stall: Ungeachtet von Forschungen über den beeinträchtigten Wärmehaushalt des Pferdes müssen die pink gestreiften Bandagen mit dem Fliegenhäubchen und der Schabracke zusammenpassen. Scham wird empfunden, wenn der Liebling nun schon den zweiten Winter mit der unscheinbaren Decke aus dem Schlussverkauf herumläuft. Der Hochmut der leistungsstarken Warmblüter trifft auf die Verächtlichkeit der Robustrassenbesitzer. Reitweisen werden gehässig kommentiert, es entstehen erbitterte Glaubenskriege, welcher Reitlehrer nun der beste sei.

Emotionen gehören nicht in den Stall

Nach dem langen Arbeitstag werden hohe Erwartungen in das Miteinander zwischen Pferd und Mensch gestellt. Werden diese nicht erfüllt, verlieren viele die Fassung. Reiter sind reizbar. Lässt nun die ebenfalls gehetzte Boxennachbarin den Besen schief stehen, kommen sie alle zusammen – die Wut, die Trauer und die Ungeduld. Mobbing, üble Nachrede und Diffamierungen halten Einzug in deutschen Reitanlagen. Die Atmosphäre in einem Stall ist voller unbewusster und bewusster Einstellungen, Haltungen und Emotionen. Auch wenn Sie nichts sagen und nichts tun, bei Ihrem Pferd kommen viele Informationen an: Sorgen, Nöte, Ängste, Wünsche, Träume. Pferde sind gute Empathen.

Im Umgang mit dem Pferd sollte es doch in erster Linie um das Wahrnehmen und Erkennen der Grundbedürfnisse der Pferde gehen. Im Stallalltag beobachten wir ganz anderes: Tiere als Partnerersatz, Liebe zum Tier als Ausgleich für fehlende Selbstliebe, der Geltungsdrang, das gute Ansehen vor den Stallkollegen, Stolz und Ehrgeiz, Neid und Missgunst und, leider nur zu häufig, der Wunsch nach Bewunderung für den Menschen, der „das arme Tier gerettet hat“, sind Aspekte der menschlichen Gemütswelt, die außerhalb der reinen Beziehung Mensch – Pferd stehen. Die emotionale Bedürftigkeit des Menschen rückt dann in den Mittelpunkt, nicht das Sicherheit gebende Sozialgefüge mit dem Pferd.

In diesem Frühjahr wurde ich zu einem interessanten Vortrag eingeladen. Richard Vizethum aus Hilpoltsstein nannte diesen denkwürdigen Abend „Emotionslos reiten“. Es wurde deutlich herausgearbeitet, dass in vielen Reitställen nicht das Fachwissen und die feine Kommunikation mit dem Pferd im Mittelpunkt stehen, sondern Scham, Stolz, Trauer, Wut, Neid, Ehrgeiz und Angst. Dabei werden Haltung, Emotionen und Gefühle bunt gemixt und teils am Pferd oder auch auf Kosten der Pferde ausgelebt.

Die Lösung: Wir müssen lernen, unsere Emotionen zu Hause zu lassen! Das heißt keinesfalls, dass wir unser Pferd nicht lieben, hegen und pflegen sollen. Nein, im Gegenteil. Wir sollten ihm diese Liebe aber nicht in Form von Leckerli und Schmuckschabracken zeigen. Wenn wir unser Pferd zum Beispiel ausgiebig, an seinen Bedürfnissen orientiert, putzen, können wir zur Ruhe kommen. Das ist emotionsloses Sein im Hier und Jetzt. Ein Miteinandersein, das Wahrnehmen des anderen, das Zulassen von Nähe. Negative Gedanken, wie „Hoffentlich passiert das nicht schon wieder“ oder „Hauptsache, XY ist nicht gleichzeitig in der Halle“ und Ähnliches, lassen Sie los. Nehmen Sie die Situation, so wie sie ist, bleiben Sie bei sich und Ihrem Pferd in der Gegenwart, denn da ist kein Platz für Befürchtungen oder Sorgen.

Auch beim Reiten sollten wir „emotionslos“ sein. Wir sollten uns weder auf die Reaktionen der „Experten an der Bande“ noch auf feste Ziele fokussieren, denn das begrenzt unser Blickfeld und schafft Spannungen im Körper, die Harmonie im Sattel unmöglich machen. Eine enge Fokussierung nimmt Ihnen zudem den Handlungsspielraum, bei Schwierigkeiten gelassen und ruhig andere Wege zu gehen – ohne Frust, Scham, Angst, Ungeduld oder Wut zu empfinden. Gerade Angst spielt eine wichtige Rolle im Reitstall. Sie hat viele Gesichter. Manche Reiter erstarren, wenn ihr Pferd erschrickt, manche werden wütend bis aggressiv. Verbale und physische Wutausbrüche sind leider häufig zu beobachten. Und manche Reiter geben alles auf oder schmeißen alles hin. Negative Erfahrungen, die sie selbst gemacht haben oder beobachtet haben, füttern die Angst der Betroffenen und lassen sie auf vielfältige Weise eigenartig reagieren. Manche machen „einen auf dicke Hose“, andere haben einen Tunnelblick für Schreckensszenarien, manche pöbeln und andere suchen die Schuld beim Dritten – dem Hallenboden, der Herdenkonstellation, der Lautstärke, dem Wetter oder der Stimmung im Stall, irgendwas davon ist immer verantwortlich für die individuellen Gefühle.

Rudolf Binding schrieb vor knapp 100 Jahren: „Das Pferd ist dein Spiegel. Es schmeichelt dir nie. Es spiegelt dein Temperament. Es spiegelt auch deine Schwankungen. Ärgere dich nie über dein Pferd; du könntest dich ebensowohl über deinen Spiegel ärgern.“

Ein außergewöhnliches Zitat, das das Besondere am Wesen Pferd herausarbeitet. Pferde haben eine sehr hohe Sozialkompetenz. Sie nehmen wahr, ob Sie selbstsicher und authentisch Ihren Weg gehen. Bevor Sie also Ihrem Pferd die Schuld für missglückte Handlungen geben, ihm negative Charaktereigenschaften zuschreiben oder es gar züchtigen oder abgeben möchten, nutzen Sie das Pferd als Spiegel. Atmen Sie tief durch. Atmen Sie bewusst. Erst jetzt, nach einigen Atemzügen, beurteilen Sie Ihre Situation neu.

Auch unsere Kursteilnehmerin vom Anfang beobachtet ihre Situation; sie sammelt Informationen, versucht nicht zu bewerten oder gar zu verurteilen. Sie vermeidet Interpretationen und lächelt. „Ich möchte eigentlich den ganzen Tag mit meinem Pferd kuscheln, das Fell fühlt sich toll an, ich bin stolz auf die lange Mähne. Mein Pferd möchte Sicherheit und entspannt sich eher im Abstand. Abstand und Distanz sind verschiedene Dinge. Abstand kann Nähe sein. Führung schafft Sicherheit. Führung muss nicht aggressiv sein. Eine Gerte kann ein verlängerter Arm sein, das hat mit Schlagen nichts zu tun …“ Erkenntnisse über Erkenntnisse sprudeln aus ihr heraus. Sie kommt im Hier und Jetzt an, sieht die Gelassenheit ihres Pferdes und fühlt ihre eigene Zuversicht. Irgendwie rein sachlich und emotionslos und irgendwie voller Liebe und Zuneigung.

 

 

 

 

 

 

Category: Aktuelle Themen

Comments (7)

Trackback URL | Comments RSS Feed

  1. Ein wunderbar treffend, achtsam geschriebener Artikel. Er trifft ins Pferdebesitzerherz. Manchmal zuckt man halt dabei ein wenig zusammen, denn es klingen innere Dinge an. Das Wissen darum, dass Reiter/Pferdebesitzer ja oft weiss, dass da was schief läuft. Aber dein Artikel führt uns wohlwollend unser Dilemma im Umgang zwischen Mensch und Flucht-/Herdentier Pferd vor Augen. Dort kann man den Weg beginndn zu erkennen.

    Auf dass er Denkanstoss und Wegweiser für viele hier im Netz wird. Oder eben für die, die bereit dafür sind, ihren Weg zugehen zum Wohle des Pferdes UND des Menschens 🙂

    Herzlichen Dank dafür, liebe Sibylle

  2. Auch mich stört das Wort „emotionslos“. „Gelassenheit“ beschreibt es besser. Mit sich selber im Reinen, bevor man auf andere „losgeht“, sei es nun Mensch, Hund oder Pferd.

  3. Nicole Heupel sagt:

    Ich finde diesen Artikel sehr gelungen, jedoch stört mich das Wort emotionslos. Ich glaube nicht, das es einem Mensch gelingt emotionslos zu sein. Es gehört zu uns und macht einen großen Teil von uns aus.
    Mir würde es besser gefallen, wenn diese Erklärung auf Begriffe wie “ authentisch und bewusst“ zurück greifen würden. Denn ich glaube wenn wir uns auf das konzentrieren was wir tun sollen oder wollen, dann haben wir wesentlich mehr Erfolg. Der Aufruf emotionslos zu sein ist in meinen Augen fast gleich wie: „Denken Sie nicht an rosa Elefanten! Irgendwie ist unsere Gesellschaft sehr darauf programmiert eher das zu fordern was wir nicht sollen, als das was wir sollen. Ich persönlich glaube jedoch, dass wir besser fahren würden mit Aufforderungen die unser Tun beschreiben, als mit Beschreibungen was wir nicht tun sollen.
    Damit ich aber bewusst wahrnehmen kann was in mir vorgeht, muss ich meine Emotionen erkennen und erst einmal annehmen, erst dann kann ich lernen damit umzugehen und sie gegebenenfalls verändern. Wenn jetzt aber jemand glaubt, er darf seine Emotionen nicht haben, dann glaube ich wird die ganze Sache verkrampft und ewig gut.
    Deshalb finde ich die Formulierung ungünstig. Grundsätzlich den Artikel aber sehr gut!

Leave a Reply