Dehnen in Geschichte und Gegenwart
Und der Vorgeschmack auf unser zweites Feine Hilfen-Webinar: Ein Auszug aus Christin Krischkes Buch „Du entscheidest“ zum Thema Dehnungshaltung:
Wo immer man ursprüngliche Reiterei beobachtet, tragen die Pferde ihren Kopf in der anatomisch effizientesten Position, individuell verschieden, aber mit den Ohren deutlich über dem Widerrist, in der Position der optimalen Kraftentfaltung. Ich nenne diese Position meinen Reitschülern gegenüber ›in der Kraft‹. Viel zu oft bringen reiterliche Manipulationen das Pferd ›aus der Kraft‹. Wenn ein Pferd ›in der Kraft‹ so große Bewegungen hat, dass der Reiter sie nicht sitzen kann, wird er sein Pferd instinktiv aus der Kraft bringen. Auch übermütige Pferde fügen sich abseits der Kraft besser den reiterlichen Kommandos. Gustav Rau formt es in seinem Buch von 1921 ›Altgold, Geschichte eines Kriegspferdes‹ passend in Worte:
»… die Menschen bringen das Pferd in die Stellung, in der sie glauben, es am sichersten und leichtesten beherrschen zu können. Seit sie reiten, ersinnen sie Reitsysteme, unter denen [Pferde] leiden müssen und von denen einige ›Leidsysteme‹ heißen müssten.«
(…)
Der Wiener Ludwig Koch (1866-1934) verdiente seinen Unterhalt als Maler. Er war ein großer Könner, zeichnete und malte die Bewegungen der Pferde sehr naturgetreu und dies in einer Zeit, als Fotografien noch eine Seltenheit waren. Seine Genremalerei in der Spanischen Reitschule machte ihn berühmt. In seinem Buch ›Reitkunst im Bilde‹ warnt er vor tiefer Kopfposition:
»… wird aber gar von einer tiefen Vorhand zum Zwecke der Rückenaufwölbung gesprochen … so ist dies zugleich der sicherste Weg, die Pferde auf der Vorhand zu belasten«, weil »ein Tieferwerden der Vorhand also das Gewicht derselben noch vergrößert und somit gewaltsam das Pferd auf die Vorhand gebracht wird.«
Trotz der einleuchtenden Gegenargumente hatte sich das Dehnen in Deutschland unaufhaltsam verbreitet. Gustav Dreyhausen sprach sich 1936 vehement gegen das Vorwärts-Abwärts in der deutschen Reiterei aus. Die deutsche Reiterei könne, so meinte er, gar bis zur Weltspitze gelangen, wenn sie die Pferde endlich versammelnd-aufrichtend ausbilden würde. Jetzt liegt es an Dir, Dich dieser Herausforderung zu stellen! Dich trennt im Grunde nur eine einzige Entscheidung davon.
Die historische Idee des Dehnens
Grund dafür, dass die Rahmenerweiterung immer häufiger übertrieben wurde, bis die Pferde schließlich in die Länge gestreckt wurden, ist sehr einfach: Immer wieder lesen wir in dieser Epoche von schlechten, schwachen, langen Rücken der zugunsten raumgreifender Schwebetritte gezüchteten Truppenpferde. So auch bei Holleuffer:
»So steht es auch mit dem Rücken des Pferdes, wobei indes zu bemerken ist, dass der kurze und der zu feste (starre) Rücken zwar größere Lasten tragen kann, aber weniger Schwungkraft für räumigere Gangarten besitzt, dagegen der lange Rücken geringeres Gewichtsvermögen, aber mehr Schwungkraft hat.« …«Das Wort ›Reitpferd‹ wird so leicht hingesprochen, ohne doch zu bedenken, dass es durch das Tragen des Reitergewichts eigentlich ein Lastpferd ist. Würde dies jeder Dressierende immer vor Augen haben, so würde im Ganzen richtiger gearbeitet werden«.
Und Krane (1849-1919) schreibt sogar explizite Anweisungen über das Training von Pferden mit schwachem oder langem Rücken und von Pferden mit ganz schwachem Rücken:
»Pferde von ganz schwachem Rücken zeigen […] häufig eine Abneigung zur vermehrten Dehnung … [im] stärkeren Galopp …, weil sie die Einwirkung der Last fürchten. Bei ihnen muss der Reiter seine Last durch Vorneigen vermindern«, und »Bei Pferden von schwachem und langem Rücken [hingegen] würde diese Vorneigung beim stärkeren Trabe und den Übungen im gedehnten Schritt stets [angemessen] sein.«
Führen wir uns vor Augen, dass die Pferde dieser Zeit zum schnellen Truppentransport an die Front und zum Ziehen der Kanonenlafetten gezüchtet wurden, erstaunen die ›neuen‹ Methoden angesichts der langen Rücken nicht. Die Zeit war nicht da, einem Jungpferd solide Rumpfspannung anzutrainieren, sein Gleichgewicht und damit sein Selbstbewusstsein aufzubauen. Die Rekruten hatten schon Mühe das Reiten zu lernen, wie fern waren sie dann der Fähigkeit, ihre Pferde förderlich weiterzuschulen? Nicht einmal die Zuchtauswahl vermochte es den Rekruten einfacher zu machen. Lange, schwache Rücken setzten sich mehr und mehr durch.
Solch ein Pferd darf man nicht im Hauruck-Verfahren aufrichten, das war auch Steinbrecht klar:
»Erzwingt der Reiter sich eine Aufrichtung des Halses, ehe die Hinterfüße sich entsprechend belasten und biegen können, so fällt das ganze Gewicht auf die Lendenwirbel, durch deren übermäßige Biegung alsdann die Schiebkraft gebrochen wird. Das Pferd erscheint dadurch in seinem Gange wie im Kreuz gelähmt, und wird es mit der Zeit wirklich.«
(…)
Die Rahmenerweiterung
Vollkommen logisch und nachvollziehbar ist das reiterliche Bedürfnis, die Kopf-Hals-Positur des Pferdes den anstehenden Lektionen so anzupassen, dass es ›in die Kraft‹ kommt.
Dazu bedarf es einer Hilfe, die ein Pferd aus geringerer Muskelspannung in stärkere bringt. Genauso muss man eine Hilfe haben, die es aus stärkerer Muskelspannung in geringere bringt. In der Praxis braucht man das zum Beispiel, wenn man in der Routine vom stark versammelnden Seitengang auf die kurze Seite kommt und ›geradezieht‹. Das Pferd wird in seinem ›Rahmen‹ etwas erweitert und in (Achtung: etwas!) mehr ›Vorwärts‹ gebracht. Der Kopf mag eine Handbreit sinken, die Nase eine Handbreit vorkommen. Das ist die Rahmenerweiterung.
Da Versammlung die zuträglichste Bewegungsform ist, die ein dressurmäßig gerittenes Reitpferd annehmen kann, lohnt es sich, Versammeln (den Prozess der Herstellung) und Versammeltbleiben zu üben. Zur Dosierung der Versammlung brauche ich ebenfalls Anteile von Erweitern. Was ich jedoch nicht gebrauchen kann, ist das Erweitertbleiben. Rundenweises Vorwärts-Abwärts hat demnach keine Vorteile, dafür aber etliche Nachteile. Und wie aus diesem natürlichen ›Zügelspielraum-Erweitern‹ die überall bis zum Abwinken zelebrierte, groteske Dehnungshaltung entstehen konnte, möchte ich erklären.
Dauer und Dosis
Wie immer gilt auch hier: ›Die Dosis macht das Gift‹. Ich meine damit nicht:
Dosis = wie viele Schritte oder Minuten trabe ich das Pferd mit dem Genick unter Widerristhöhe, sondern Dosis = wie tief lasse ich kurzfristig (!) das Genick meines Pferdes?
Ein Versammeln des Pferdes verkürzt seinen Leib, ein Rahmenerweitern verlängert ihn wieder. Wie bei der Tempokontrolle muss ich beim Erweitern graduell Einfluss nehmen können, also sowohl Versammlung wie Erweiterung in feinen Abstufungen dosieren können.
Überall werden heute die Reiteinheiten viel zu lange, nämlich nach der Uhr bemessen. Die Einstellung »Ich habe eine Stunde bezahlt, dann will ich 60 Minuten reiten« ist der Ruin der Lehrpferde (und der Reitlehrernerven, nebenbei bemerkt.)
Es gibt viele Faktoren, die bei einem Pferd zur Erschöpfung der Tragleistung führen. Dazu zählt vor allem die harte Reiterhand. Aber auch ein schlechter Sitz, ein zu hohes Reitergewicht, ein schlecht angepasster Sattel und der Einsatz von Hilfszügeln. Die Symptome bauen sich schleichend auf. Zunächst regeneriert sich der Körper in den Reitpausen, doch diese Heilung lässt mit fortgesetzter Fehlbelastung nach. ›Form follows function‹ (englisch, die Form folgt der Funktion) ist die Kurzformel für den jetzt einsetzenden Muskelumbauprozess.
Die Trageerschöpfung
Je länger die Missstände anhalten desto offensichtlicher verkümmern die Muskeln, die den Widerrist heben. In Folge sackt der Brustkorb nach vorne unten ab. Der Reiter beginnt, im passiven Trageapparat zu sitzen und schlägt bei Belastungsspitzen durch bis in die knöchernen Strukturen. Außerdem verkrampfen sich die überlasteten langen Rückenmuskeln und pressen die Wirbelkörper stärker aufeinander. Sie biegen den Rücken durch, weil die ›untere Muskelkette‹ nicht stark genug ist, sich den ›stärksten Muskeln im Pferdekörper‹ (lange Rückenmuskeln) entgegenzustellen. Die ›untere Muskelkette‹ verspannt sich ebenfalls bei diesem Versuch und behindert die freie Atmung.
Ein trageerschöpftes Pferd kann keine Leistungen erbringen. Es ist schmerzhaft verspannt und wird vorzeitig an seinen Schwachstellen verschleißen, also ›Kissing Spines Syndrom‹, Spat, Sehnenschäden oder Arthrosen davontragen.
Wenn Du den Verdacht hast, Dein Pferd könnte im Vergleich zu früher an Leistungsbereitschaft verloren haben, ist mit großer Wahrscheinlichkeit die Trageerschöpfung beteiligt. Von Deinen Entscheidungen hängt die Zukunft Deines Pferdes ab. Soll es gesunden und bist Du bereit, Dich und die Umstände dafür zu verändern? Was zu der ›Reha‹ Deines Pferdes nicht beitragen wird, ist rundenweises Traben mit tief abgesenktem Kopf. Die meisten Tierärzte glauben dies (noch), doch es werden immer mehr Zweifel laut und ich hoffe, mit meinem Buch dazu beizutragen, dass das ›Vorwärts-Abwärts‹ als das verstanden wird, was es anatomisch ist: eine Extrembelastung.
Weitere Hintergründe zur Historie des Vorwärts-abwärts, zu der Art und Weise wie es heute praktiziert wird und wie pferdegerechte Pferdeausbildung ohne Dehnungshaltung aussehen kann, erklärt Christin Krischke in ihrem Webinar.
Category: Besondere Themen
Ich verstehe hierbei nicht, wie dieser Artikel, der ja ganz offensichtlich vorwärts abwärts als nicht zielführend und sogar schädlich in der Pferdeausbildung direkt im Anschluss an den ‚Dehnungshaltung, warum, wie oft, wie lange?‘ Artikel gepostet wird.
Im letzten Artikel wird die Dehnungshaltung und vorwärts abwärts als natürliche und Rückenschohnende, bzw – stärkende Methode bezeichnet, auch anhand des Zusammenspiels zwischen verschiedenen Muskelgruppen sehr anschaulich erklärt.
In diesem Artikel wird dies jedoch abgestritten, die Dehnungshaltung sogar als schädlich und Trageerschöpfung fördernd erklärt.
Des Weiteren wird hierbei erklärt, das dadurch kissing spines und ähnlicheähnliche Probleme auftreten können, nachdem im letzten Artikel explizit gesagt wurdewurde, dass die Dehnungshaltung genau dem entgegenwirken kan?
Abgesehen davon erschließt dich für mich nicht, wie man ein Pferd, welches nicht dazu in der Lage ist, korrekt über den Rücken zu laufen in die Aufrichtung zu bringen, ohne zuvor die Muskulatur mit Hilfe der Dehnungshaltung aufzubauen?
Ich hoffe, sie können mir hierbei weiterhelfen, ich verstehe die Zusammenhänge zwischen den beiden Artikeln und Ansichten nicht, und würde die Hintergründe gerne nachvollziehen können!
Liebe Celine,
danke für Ihre Nachricht. Beide Artikel stellen zwei verschiedene Ansichten (Pro- und Contraseite) zum Thema dar. Beide Referentinnen halten ein Webinar über ihre Sicht der Dinge. Im Dezember gibt es abschließend eine Veranstaltung mit Diskussion über das Thema auf der Pferd und Jagd. Dann werden wir differenziert berichten.
Ich reite v/a oder mit hoher Kopfstellung, je nach Bedarf. Ein Pferd mit ausgelutschter Muskulatur (Trageerschöpfung) darf man nicht in Dehnung reiten, sondern muss wieder Spannung in die Muskulatur bringen. In Dehnung spürt man schön, wie der Brustkurb hölzern in der maximal gedehnten Muskulatur hängt. Nimmt man die Zügel kürzer, so bekommen die Muskeln wieder Spannkraft.