Tierschutz im Pferdesport? – Offenbar immer noch ein Fremdwort
Der Meinungsartikel aus der neuen Ausgabe 13:
Von Marlitt Wendt
Das Tierschutzgesetz lässt zu viel Raum für Interpretationen, findet Verhaltensbiologin Marlitt Wendt. In ihrem Meinungsartikel macht sie Vorschläge, wie sich die Situation vieler Pferde verbessern ließe.
Der Rahmen, den das Tierschutzgesetz für die Haltung und Nutzung von Pferden vorgibt, ist sehr weit gefasst. Er beinhaltet zwar, dass keinem Wirbeltier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Schäden oder Leid zugefügt werden dürfen, es bleibt aber schwierig zu beurteilen, was denn nun eigentlich genau „vernünftige“ Gründe sind und wer diese kompetent von „unvernünftigen“ und damit rechtswidrigen Handlungen unterscheidet. Zudem gibt es bisher keine objektive und eindeutige Definition von „Leid“ oder „Schmerzen“. Es ist außerdem fraglich, wer diese Vorgaben im Pferdebereich letztlich kontrollieren soll. In der gesamten Ausbildung der Profis, vom Bereiter bis hin zum Tierarzt, werden die Themen Verhaltensanalyse, Körpersprache und Bedürfnisse von Pferden stark vernachlässigt oder sind sogar im wissenschaftlichen Sinne gar nicht vorhanden. Da die mitverantwortlichen Dachverbände oft nur Lippenbekenntnisse liefern, statt flächendeckend zu handeln, bleibt es aus meiner Sicht eine Aufgabe für uns Pferdeliebhaber, uns selbst kritisch und auf der Basis der Ethik mit der schwierigen Frage nach Leid und Wohlbefinden der Pferde auseinanderzusetzen.
Der Zweck heiligt nicht die Mittel
Heutzutage muss der aufmerksame Beobachter der Pferdeszene leider feststellen, dass nicht nur der Spitzensport betroffen ist, wenn es um die Einhaltung des Tierschutzgedankens geht, sondern mindestens im selben Ausmaß der gesamte Freizeitsektor. Die Schauplätze sind vielleicht andere, das Leid der Pferde lastet jedoch gleich schwer auf ihren Seelen. Während sich typische Problemfelder des Sportpferdes um körperliche Schäden und Verschleiß durch übermäßige Belastung, Stress und Überforderung oder ungenügende Trainings- und Haltungskonzepte drehen, geht es im Freizeitbereich oft um Kostenersparnisse, Bequemlichkeit und Unwissenheit vieler Reiter. Dabei ist auffällig, dass immer wieder medienwirksame Einzelfälle, einzelne Personen und Pferdeschicksale einstimmig kritisiert und verdammt werden. Diese außergewöhnlich schlimmen Fälle von Missbrauch und Tierquälerei müssen natürlich sofort unterbunden und geahndet werden. Was mir auffällt, ist jedoch, dass über die Auseinandersetzung und die Empörung zu diesem „außergewöhnlichen“ Missbrauch der Tiere das alltägliche Leid einfach hingenommen wird und viele nicht so recht darüber sprechen mögen. Doch auch diese tagtägliche Gedankenlosigkeit vieler Reiter bedeutet für Millionen Pferde eine starke Einschränkung ihrer Lebensfreude.
Scheinbar besitzen diese sanften Lebewesen, sei es die Vielzahl an Schulpferden, die abgestumpft unruhige Reiterhände ertragen müssen, unzählige Freizeitpferde, die auf Provinzturnieren auf den Hänger geprügelt werden, oder zu kurz ausgebundene Ausbildungspferde im Reitstall um die Ecke, keine Lobby. Die Liste der aus meiner Sicht brisanten alltäglichen Problemfelder ist schier endlos: Von der Pferdehaltung über den Gebrauch fragwürdiger Ausrüstungsgegenstände bis hin zu tierquälerischen Ausbildungsmethoden gibt es vieles, was im Hinblick auf den Tierschutzgedanken generell infrage gestellt werden sollte. Doch wer sollte das flächendeckend tun? Die Profis im Pferdebereich, angefangen von den Stallbetreibern über die Reitlehrer bis hin zu Tierärzten und Turnierrichtern, sind zumeist selbst viel zu stark in dieses System mit eingebunden. Sie leben von diesem Geschäft mit den Pferden, das von Kostendruck, Massengeschmack und übersteigerten Anforderungen an das Pferd geprägt sind. Sie können, wenn überhaupt, nur die Minimalanforderungen im Auge behalten, grobe Richtlinien befolgen und die extremen Auswüchse des physischen Leids eindämmen. Die Ebene des psychischen Leids jedoch, den Mangel an empfundenem Wohlbefinden und Freiheit, die fehlende Freude im Leben vieler Pferde, werden wir nur gemeinsam verbessern können.
Empathie und Verantwortung
Wir können die Rechte der Pferde stärken, indem wir empathisch agieren, unser eigenes Tun infrage stellen und unsere Verantwortung am Leid der Tiere in dieser Pferdeindustrie nicht ausklammern. Denn wie oft ist man doch Konsument eines fragwürdigen Anbieters, der neben den vielleicht sinnvollen Heunetzen oder harmlosen Schmusebürsten auch ein ganzes Arsenal an Hilfszügeln, scharfen Gebissen und abenteuerlichen Sporen im Angebot hat oder aber einer der wichtigsten Sponsoren und Drahtzieher der Sportindustrie ist? Wie oft sieht man unglückliche oder stark gestresste Pferde auf Turnieren und Shows, unterstützt mit seinem Eintrittsgeld aber dennoch das Geschäftsmodell dieses Veranstalters und eben genau diese professionellen „Pferdeflüsterer“? Wie viele Eltern schicken ihre Kinder in den Reitverein, in dem es mit der pferdegerechten Haltung nicht gerade gut bestellt ist, einfach nur, weil es zu unbequem ist, die Kinder ein paar Kilometer weiter zu fahren? Hat man nicht auch einmal nur deshalb an einem Ausritt teilgenommen, weil alle das machen, und nicht, weil es der persönlichen Bindung zum eigenen Pferd förderlich ist? Sicher kann niemand von uns sich ausnehmen, sich auf dem einen oder anderen Gebiet immer wieder mitschuldig gemacht zu haben. Aber Stress haben offenbar immer nur die Pferde der anderen, bei den eigenen Fehler verschließen wir nur zu gern die Augen. Umso wichtiger ist es, sich diesen Umstand immer wieder zu verdeutlichen: Welchen Anteil haben wir am Glück unserer Pferde? Wie oft stellen wir unsere egoistischen Ansprüche über die Wünsche unseres Freizeitpartners? Und lassen wir uns nicht auch immer wieder von aufwendig inszenierten Shows, tollen Kostümen oder großen Namen von den wahren Gefühlen der beteiligten Tiere ablenken?
Kriterien für Wohlbefinden
Wenn überhaupt, wird bislang in vielen Reiterkreisen über den körperlichen Missbrauch von Pferden gesprochen und die Grundbedürfnisse des Pferdes in Haltung und Fütterung definiert. Darüber hinaus darf es meiner Meinung nach nicht nur um das Vermeiden von Schäden und Aufzeigen von Missständen gehen, sondern wir brauchen einen neuen Anreiz, das Gute im Blick zu behalten und entsprechend zu würdigen.
Es müssen ebenso Kriterien definiert werden, wie Leid, Stress und Schmerzen eindeutig identifiziert werden können, wie auch Kriterien definiert werden sollten, die deutliche Anzeichen für Wohlbefinden, Freude und Vitalität sind. Verhaltensrichtlinien, also von Verhaltensexperten erstellte Kataloge zum Thema Ausdrucksverhalten, Körpersprache und Mimik, werden dringend benötigt. Genauso Gremien, die positive Beispiele in Haltung, Umgang und Ausbildung hervorheben. Nur wenn flächendeckend bekannt ist, dass ein glückliches Pferd nicht teilnahmslos mit hängendem Kopf und fehlendem Ohrenspiel in die Gegend starrt oder mit gestresst angespannter Kaumuskulatur seine Lektionen abspult, sondern einen weichen Muskeltonus, einen wachen Blick und eine entspannte Maulpartie aufweist, wird ein Wandel in der Pferdeszene möglich sein. Erst wenn es sich lohnt, ein positiv trainiertes, nicht gestresstes Pferd vorzustellen, und es sich nicht mehr lohnt, ein Pferd möglichst schnell auf „Erfolg“ zu trimmen, wird sich langsam eine Veränderung durchsetzen. Das wird jedoch nur möglich sein, wenn weder in Dressurprüfungen noch im Kinderreitunterricht Pferde mit Stressgesicht, depressivem Gesamteindruck oder im Zustand der erlernten Hilflosigkeit geduldet oder sogar als „normal“ bezeichnet werden. Wenn es endlich honoriert wird und einen Einfluss auf das Turnierumfeld, auf Wertnoten oder Prämierungen hat, wenn ein Pferd entspannt und interessiert seine Lektionen absolviert.
Solange von offizieller Seite keine solchen „Positivmarker“ verbindlich vorgegeben werden und „Negativanzeichen“ immer noch viel zu wenig berücksichtigt werden, bleibt vermutlich nur der Weg des sozialen Ungehorsams, indem wir Pferdeliebhaber nicht müde werden, immer wieder unbequeme Fragen zu stellen und die Verantwortlichen mit ihrem Fehlverhalten zu konfrontieren. Vor allem aber sollten wir alle überdenken, von welchen Veranstaltungen wir lieber komplett fernbleiben, welche Anbieter von Pferdeausrüstung generell nicht unterstützenswert sind oder welche Art von Trainern keinen Zulauf mehr finden sollten. Dazu sind Aufklärung, Information und vor allem auch positive Gegenentwürfe und Angebote nötig.
Eine Vision: Neue Definition von Erfolg
Das Problem bei einem Fokus auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, also sprich der reinen Einhaltung der bisherigen Kriterien des Tierschutzgesetzes, ist, dass zwar die extremen Ausfälle vermieden werden könnten. Letztlich würde eine Anhebung des Gesamtniveaus und Verbesserung der Lebensfreude der Pferde damit trotzdem auf der Strecke bleiben. Wir dürfen uns nicht in einer reinen Diskussion über die Auswüchse des Pferdesports verlieren, über eine Definition von „artgerecht“ und „natürlich“, sondern müssen den Faktor der persönlichen Rechte jedes einzelnen Individuums näher betrachten. Es reicht nicht, dass Pferde keinen Hunger leiden, wenn sie trotzdem in ungeeigneten Boxen dahinvegetieren oder körperliche Schäden durch die Nutzung für unser Hobby davon tragen. Es geht vielmehr darum, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Pferde ein Recht auf ein erfülltes Leben haben, auch ohne einen direkten Nutzen für den Menschen zu erfüllen. Sie sind Persönlichkeiten, die sich nur entfalten und erblühen können, wenn wir aufhören, sie rein nutzungsorientiert zu betrachten, und beginnen, ihre Potenziale wirklich zu fördern, ihre Lebensfreude zu steigern und ihre Individualität wahrzunehmen. Dazu müssen wir sie als Personen achten und ihnen unveräußerliche Rechte zugestehen. Generell ist es sicher ein Schritt in die richtige Richtung, wenn über Möglichkeiten der Gruppenhaltung nachgedacht und die immer noch weitverbreitete Boxenhaltung immer mehr infrage gestellt wird. Nun ist es jedoch an der Zeit, auch die Bedürfnisse des einzelnen Tiers in den Mittelpunkt zu stellen. Es gibt Pferde, die in genau der Gruppe, in der ein anderes Pferd glücklich ist und sich wohlfühlt, mit ausgeprägtem Stress reagiert. Vielleicht, weil es ein anderes Schlafbedürfnis und andere Ansprüche an einen Schlafplatz hat als die übrigen Gruppenmitglieder. Es gibt Pferde, die zu sensibel sind, um einen ständigen Wechsel der Reiter zu verkraften, die besser aufgehoben sind mit nur einer Bezugsperson. Ebenso gibt es Pferde, die generell in unserer heutigen technisierten Welt überfordert sind mit Ausritten und die nur schwer an die Vielfalt möglicher Außenreize zu gewöhnen sind. Wir tun nämlich unseren Pferden auch keinen Gefallen, wenn wir ihnen vermeintlich positive Aktivitäten oder Haltungsformen angedeihen lassen wollen, die ihren persönlichen Bedürfnissen widersprechen. Wir brauchen neben unserem eigenen verstärkten Engagement neue Forschungsarbeiten, die die Persönlichkeitsmerkmale von Pferden genauer untersuchen und Unterschiede von Individuen, Geschlechtern oder Rassen näher beleuchten. Nur so kann es zu einer langfristigen Differenzierung kommen, und aus Richtlinien zur Vermeidung von Schäden für sämtliche Pferde können neue Ansätze für Entwicklungspotenziale einzelner Pferdepersönlichkeiten werden. Daraus kann eine neue Definition für „Erfolg“ im Zusammenleben mit Pferden entstehen. Wirklich erfüllend und damit „erfolgreich“ ist in meinen Augen jemand, der es schafft, das Wesen seines Pferdes zum Strahlen zu bringen. Der es schafft, das Beste aus allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu machen, und nicht versucht, sein Tier in ein bestehendes Schema zu pressen. Erfolg braucht eine neue Definition: Weg von den Vergleichen mit anderen Reitern und der Orientierung an vermeintlich „Besseren“, und damit auch weg vom allgegenwärtigen „Höher, Schneller, Weiter“ hin zu mehr Zufriedenheit und einem achtsamen Umgang. Pferde sind unsere Mitgeschöpfe, sie bedürfen unseres Schutzes und verdienen unseren Respekt vor ihren Wünschen an das Leben.
Category: Besondere Themen
Vielen Dank an Marlitt Wendt für diesen interessanten Artikel, der mir als Pferdefreundin und Freitzeitreiterin (zurzeit leider ein wenig aus der Übung) aus der Seele gesprochen hat! Sie haben vollkommen Recht, wenn Sie schreiben: „Es müssen ebenso Kriterien definiert werden, wie Leid, Stress und Schmerzen eindeutig identifiziert werden können, wie auch Kriterien definiert werden sollten, die deutliche Anzeichen für Wohlbefinden, Freude und Vitalität sind. Verhaltensrichtlinien, also von Verhaltensexperten erstellte Kataloge zum Thema Ausdrucksverhalten, Körpersprache und Mimik, werden dringend benötigt. Genauso Gremien, die positive Beispiele in Haltung, Umgang und Ausbildung hervorheben.“
Auch Ihren Äußerungen über die Individualität und Persönlichkeit eines jeden unserer Mitgeschöpfe kann ich nur zustimmen: „Nun ist es jedoch an der Zeit, auch die Bedürfnisse des einzelnen Tiers in den Mittelpunkt zu stellen. Es gibt Pferde, die in genau der Gruppe, in der ein anderes Pferd glücklich ist und sich wohlfühlt, mit ausgeprägtem Stress reagiert. Vielleicht, weil es ein anderes Schlafbedürfnis und andere Ansprüche an einen Schlafplatz hat als die übrigen Gruppenmitglieder. Es gibt Pferde, die zu sensibel sind, um einen ständigen Wechsel der Reiter zu verkraften, die besser aufgehoben sind mit nur einer Bezugsperson. Ebenso gibt es Pferde, die generell in unserer heutigen technisierten Welt überfordert sind mit Ausritten und die nur schwer an die Vielfalt möglicher Außenreize zu gewöhnen sind. Wir tun nämlich unseren Pferden auch keinen Gefallen, wenn wir ihnen vermeintlich positive Aktivitäten oder Haltungsformen angedeihen lassen wollen, die ihren persönlichen Bedürfnissen widersprechen. Wir brauchen neben unserem eigenen verstärkten Engagement neue Forschungsarbeiten, die die Persönlichkeitsmerkmale von Pferden genauer untersuchen und Unterschiede von Individuen, Geschlechtern oder Rassen näher beleuchten.“ Genau über diese Dinge habe ich mir nämlich auch schon häufig Gedanken gemacht. Es ist ja wie bei uns Menschen: Jedes Pferd (jedes Tier überhaupt) hat ganz individuelle Bedürfnisse, welche sich nur über die Körpersprache des Pferdes erschließen lassen. Wir Pferdefreunde stehen daher immer wieder vor der Herausforderung, die Signale unseres Partners wahrzunehmen und richtig zu deuten. Übrigens: Vielen Dank auch für das wunderschöne Bild am Anfang dieses Artikels! Eine solche liebevolle Szene zwischen Mensch und Partner Pferd ist wohl das, was wir Pferdefreunde alle anstreben sollten. Es vermittelt auch einen Eindruck von dem, was Monty Roberts mit einem perfekten „Join-up“ gemeint hat.
Marlitt Wendt hat mit ihrem Artikel den Verdienst, eine Lücke angesprochen zu haben, in der der Tierschutz bis jetzt zu wenig aktiv sein konnte, weil es an Beweisen der ausgeübten „Missetaten“ fehlte. Der Artikel ist sehr gut und kommt zur rechten Zeit. Die Pferde in ihrer Individualität und Persönlichkeit wahrzunehmen und „Erfolg“ bei jedem Pferd immer wieder neu zu definieren bzw. sich selbst in seinen Ansprüchen zu hinterfragen, ist ein Gedanke, den man nicht genügend betonen kann. Man darf hoffen, dass insbesondere die Dressurreiter ihn beachten und sich mehr in acht nehmen.
Fritz Stahlecker und Petra Wägenbaur